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Einsamen

Einsamen

Titel: Einsamen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H Nesser
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durchgesessene Sitze und wurde vier von fünf Malen von dem rundlichen Vater von Benny Persson – dem Quälgeist der Stavaschule – gelenkt. Wenn sie zurück in die Fimbulgatan kamen, war es schon dunkel, die Hausaufgaben waren noch nicht gemacht, und seine Mutter hatte rote Augen vom Weinen, dem sie sich heimlich auf der Heimreise hingegeben hatte.
    Aber sein Vater starb an keinem Dienstag, es geschah in der Nacht von einem Freitag auf einen Samstag. Die Beerdigung fand gut eine Woche später in aller Stille statt. Das war im November 1964, und es regnete von morgens bis abends.
    Vielleicht waren es gar nicht die Sanatoriumsbesuche, die den Kern seiner Dienstagsphobie bildeten, es war nicht so leicht zu sagen. Bereits in frühen Jahren hatte Rickard Berglund eine bestimmte Auffassung davon gehabt, wie die verschiedenen Wochentage aussahen. Welche Farbe sie hatten beispielsweise und welches Temperament – auch wenn es noch viele Jahre dauern sollte, bis er begriff, was das Wort »Temperament« bedeutete. Demnach waren die Samstage schwarz, aber warm, die Sonntage natürlich rot, genau wie im Kalender, die Montage dunkelblau und sicher … während die Dienstage immer eine Art harte Schale hatten, grauweiß, kalt und abweisend; sich in sie hineinzubegeben, war ungefähr so ein Gefühl, als würde man seine Zähne in ein Porzellanbecken schlagen.
    Dann folgte der sehr, sehr dunkelblaue Mittwoch, der gegen Abend sein Versprechen von Wohlstand und Wärme zu erfüllen schien, der Donnerstag mit seinem himmelblauen Freiheitsgefühl und der weiße Freitag – wobei das Weiß des Freitags eine ganz andere Beschaffenheit hatte als die Eiseskälte des Dienstags.
    Er wusste nicht, woher er dieses klare Bild eines Wochenrades hatte – oder woher er überhaupt wissen konnte, dass es sich um ein Rad handelte –, und ab und zu fragte er sich, ob andere Menschen es auf die gleiche Art und Weise sahen. Aber er hatte nie, zumindest bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr, mit irgendjemandem diese Sichtweise diskutiert. Möglicherweise aus Angst, für nicht normal gehalten zu werden.
    Die Dienstagsphobie war auf jeden Fall hängen geblieben. Während seiner Jahre auf dem Gymnasium war er in seinem möblierten Zimmer in der Östra Järnvägsgatan an diesem Wochentag immer mit einem Gefühl der Schwermut aufgewacht, wohl wissend, dass von den folgenden fünfzehn, sechzehn Stunden nichts Gutes zu erwarten war. Weder was die Schule betraf, noch was die spärlichen Freundschaftsbeziehungen anging. Die Dienstage waren emaillehart und feindlich von Natur aus, und das Einzige, was man tun konnte, war der Versuch, sich zu wappnen. Sich zu wappnen und zu überleben.
    Vielleicht konnte das auf lange Sicht sogar von Nutzen sein.
    Heute jedoch war kein Dienstag. Es war Montag. Es war der
9. Juni 1969, und der Schienenbus von Enköping hatte mit langgezogenem Quietschen und einem Ruck auf Gleis 4 am Hauptbahnhof von Uppsala angehalten. Es war zwanzig Minuten nach elf am Vormittag, Rickard Berglund ergriff seine grüne Segeltuchtasche und stieg hinaus in den Sonnenschein auf dem Bahnsteig.
    Er blieb ein paar Sekunden vollkommen still stehen, als wollte er sich diesen Augenblick bewahren und einprägen – diesen so lange herbeigesehnten Augenblick, in dem er zum ersten Mal seine Füße auf den vielbesungenen Boden dieser Stadt der akademischen Lehre setzte. Gluntarne. Der Komponist Ulf
Peder Olrog. Orphei dränger. Es war einfach großartig.
    Obwohl er kaum etwas Besonderes erkennen konnte, als er seine Füße und deren nächste Umgebung betrachtete. Es hätte sich ebensogut um irgendwelche x-beliebigen Füße auf einem x-beliebigen Bahnsteig in Herrljunga oder Eslöv oder in irgendeinem anderen gottverlassenen kleinen Kaff im Königreich Schweden handeln können. Er seufzte. Zuckte mit den Schultern, folgte dem Menschenstrom quer durchs Bahnhofsgebäude und nahm die Stadt in Besitz.
    Zumindest formulierte er es so für sich selbst. Jetzt nehme ich die Stadt in Besitz. Das diente dazu, die Unruhe in Schach zu halten, kursiv zu denken, beinhaltete, dass man das Kommando über die Wirklichkeit ergriff. Das stammte aus einem Buch, das er im ersten oder zweiten Jahr auf dem Gymnasium gelesen hatte; er konnte sich aber weder an den Titel noch an den Autorennamen erinnern. Auf jeden Fall war es eine einfache Methode, die funktionierte: kursive Gedanken bezwingen eine bedrohliche Umgebung.
    Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz blieb er noch einmal stehen. Er

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