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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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Genugtuung.
      Ja, Christine, dann zog sich also das Gericht zur Beratung zurück, wir gingen in ein Nebenzimmer, rauchten, beobachteten Vater und Adam Kuhl, die ans Fenster traten und sich flüsternd unterhielten: offensichtlich machte Vater da seinem Hauptbelastungszeugen Vorwürfe. Wir brauchten uns nicht zu beraten. Wir hatten ihm seinen Prozeß gegeben, wir hatten ihn - zumindest nahmen wir das an - glücklich gemacht.
      Das Urteil? Du bist genau so ungeduldig wie Vater, auch er konnte das Urteil nicht erwarten, du hättest sehen sollen, wie er aufsprang von seinem Stuhl, als das Gericht einzog, begierig auf den Spruch, den er verdient zu haben glaubte. Er bog sich sozusagen heran und verharrte starr und erwartungsvoll, bis wir uns setzten und Dieter aufstand, das Urteil zu verkündigen. Nein, es war nicht formuliert. Dieter hatte sich nur ein paar Stichworte aufgeschrieben während der Verhandlung, das genügte ihm. Hoffnungsvoll blickte Vater auf Adam Kuhl, dann auf Dieter, er schien so sicher, daß seine Schuld ein für allemal festgestellt worden war und daß das Gericht sie ihm nun bestätigen werde.
      Dieter ist für die Folgen nicht verantwortlich, gewiß nicht, er hat den Spruch überzeugend begründet, ich wunderte mich sogar darüber, wie weit er ausholte; er schilderte noch einmal die Lage am Ende des Krieges, erwähnte die Ausnahmegesetze, das Kriegsrecht, und mußte bekennen, daß in solch einer Zeit Simulantentum geahndet werden mußte. Da horchte Vater schon auf, da machte er schon seine abwehrenden Handbewegungen. Und als Dieter Vaters Verhalten zwar nicht belobigte, aber so darstellte, daß man Verständnis für ihn aufbringen mußte, da kam er nah an den Richtertisch heran und protestierte leise. Was meinst du? Eben, als dann der Freispruch erfolgte, geriet Vater außer Fassung. Er, dessen Haltung du immer so bewundert hast, er nahm Dieters Hände und beschwor ihn, sein Urteil gerecht zu begründen. Dieter hatte festgestellt, daß Vater in der damaligen Zeit das Unrechtsbewußtsein gefehlt hat, deshalb müsse das Gericht auf Freispruch erkennen, mangels Beweises natürlich.
      Und dieser Adam Kuhl? Als der Freispruch erfolgte, ging er tatsächlich zu Vater und gratulierte ihm. Weißt du, was er sagte: Nu, sehn Se, Herr Doktor, das hab ich doch immer gemeint, und jetzt können wir Freunde bleiben. Vater? Der übersah Kuhls Hand, der hörte offenbar nicht einmal den Glückwunsch. Vater fiel auf die Knie. Er bat das Gericht, das Urteil neu zu formulieren. Ich sah, daß er Mühe hatte beim Atmen, außerdem war er so erregt, daß ich unsern Gerichtsarzt rief; er gab ihm eine Beruhigungsspritze. Ich sagte doch schon, ich selbst habe ihn in die Pension gebracht.
      Es hat geklingelt? Mach nicht auf, vielleicht ist er das schon, vielleicht bringt er neues Material gegen sich. Wie meinst du? Was denn sonst? Wir müssen ihn freisprechen; ich fürchte - selbst wenn Olaf, Dieter und Günter das alles noch einmal spielen wollen -, ich fürchte, Christine, wir müssen ihn auch beim nächsten Mal freisprechen.

    1970

Einstein überquert die Elbe bei Hamburg

    Geschichte in drei Sätzen

    Dies hier ist eine Photographie zum Lesen, zum Suchen und Wiederfinden jedenfalls, denn so ein Weitwinkel beläßt es nicht bei wenigen Worten, der macht dem Auge redselige Angebote - was noch gar nichts heißen soll; aber man wundert sich doch über die gutmütige, erzählbereite Elbe, die im Vordergrund an Ketten hängende Anlegepontons vorzeigt, zerschrammt und zersplittert unter den Stößen eiserner Bordwände; weiter dann, wo das Wasser schwarz vorbeidrängt, einfach alles zuläßt, was schwimmen kann: Festmacherboote, Getreideheber, Schlepper, Schuten, Tanker und kombinierte Frachtschiffe, die, mit Frohsinn bewimpelt, auf einwandfreiem Kollisionskurs liegen - zumindest sieht es so aus -, und die nach einer prachtvollen Massenkollision wohl noch einmal gerammt werden sollen von einem grünweißen, betagten, dennoch rostfreien Elbdampfer, einem Fährschiff, um genauer zu sein, dessen deutliche Schaumspur sowohl der Elbe als auch der ganzen Photographie eine glimmende Diagonale verschafft, eine halb ausgeführte Diagonale natürlich, die aber schon ausreicht, daß man sich nicht in die Flaggen verguckt, nicht in Masten und die im Dauerspagat hängenden Ladebäume, ja nicht einmal in die mennigrote Wand des Schwimmdocks, das vor den Helligen einer Werft verankert ist und, einen widerspruchslosen Hintergrund

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