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Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen

Titel: Einstein überquert Die Elbe Bei Hamburg: Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Siegfried Lenz
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auch mit Geringschätzung, und Erich zögert, Erich erscheint hilflos und überfordert: er stellt das Bügeleisen in die Halterung zurück. Er schüttelt entmutigt den Kopf. Er kann nicht verstehen, was passiert ist, und müde befiehlt er mir, den Oberbefehlshaber aus seiner Lage zu befreien.
      Ich binde ihn los, setze ihn auf die Füße und überlasse es ihm selbst, sein Gleichgewicht zu finden, während der Adjutant und der Stabschef sich gehorsamst erlauben, dem Oberbefehlshaber zur bestandenen Probe zu gratulieren - sie gratulieren ihm tatsächlich. Der Bursche nähert sich mit Cognacglas und Zigaretten und legt dem Oberbefehlshaber eine Wolldecke über die zitternden Schultern. Erich sitzt fassungslos auf einem Stuhl und poliert seinen Daumen in der Hüfte. Ja, sagt der Oberbefehlshaber auf Befragen zum Zivilisten, ja, die Schmerzen sind zumutbar: das hoffe ich gezeigt zu haben. Ich klopfe wie immer an die Tür des Sanitätszimmers, klopfe nur aus Gewohnheit, und wie immer erscheint der rothaarige Sani mit Fingerschiene und Verband. Er hat nichts als Schiene und Verband bei sich, stutzt beim Eintreten, will wieder hinaus, doch ich deute auf den Oberbefehlshaber, und der Sani tritt zu ihm und versucht ohne ein Wort, den rechten Zeigefinger zu schienen. Man kann schon verstehen, daß der Zivilist da erstaunt fragt: Was machen Sie da? Und dem Sani kann man es nicht übelnehmen, wenn er gewohnheitsgemäß erklärt: Den rechten Zeigefinger schienen. Es ist alles in Ordnung, sagt der Oberbefehlshaber, alles ist heil: unsere Kritiker haben eine Antwort erhalten.
      Jetzt allerdings könnte der Sani etwas weniger erstaunt dastehen.

    1966

Die Strafe

    Nein, nichts zu essen, Christine, nur einen Schnaps und sonst nichts. Wo er ist? In seiner Pension, ich habe ihn selbst zurückgebracht, nachdem alles vorüber war; unser Gerichtsarzt hat ihm eine Beruhigungsspritze gegeben, die half nicht, er hat während der ganzen Fahrt gezittert, der alte Mann. Wie meinst du? Sicher, er wird sich beruhigen, aber morgen wird alles von neuem beginnen, du kennst doch Vater, er wird seinen Freispruch anfechten, er wird wieder in mein Büro kommen und mir immer neue Kataloge seiner Vergehen anschleppen, er wird wieder die ganze Staatsanwaltschaft wild machen und sie zu überzeugen versuchen, daß er angeklagt werden muß. Anklage! Das einzige, wofür er noch lebt: angeklagt zu werden: Wegen unterlassener Hilfeleistung, wegen strafbarer Mitwisserschaft oder einfach, weil er im Krieg war. Du weißt ja, daß er sich da zum Künstler entwickelt hat, es ist ihm gelungen, aus seinem Leben eine einzige Kette von Verfehlungen zu machen; man darf einen alten Amtsarzt nicht unterschätzen, auch wenn er mitunter leicht gestört wirkt. Süchtig, ja; wie andere Bierkrüge sammeln oder Bilder, so sammelt er eben Gründe zur Anklage, zur Selbstanklage.
      Der Plan? Du meinst unseren Plan? Natürlich haben wir ihn ausgeführt, so, wie Olaf, Günter und ich alles entworfen hatten; auf die Dauer kann ich's meinen Kollegen nicht zumuten, sich mit den eingebildeten Vergehen von Vater zu beschäftigen, deshalb entwarfen wir ja den Plan, und wir alle glaubten, daß er nicht schlecht war. Und zuerst - gib mir noch einen Schnaps - verlief es ja auch ganz zufriedenstellend. Danke. Du hättest ihn sehen müssen - Vater, wie er zu seinem Prozeß erschien: vergnügt, in Schwarz, eine Aster im Knopfloch, stell dir vor, ich kann mir nicht helfen, aber er sah aus wie ein alter Hochzeiter, einer von der miesen Sorte, der bereit ist, jedes Zwinkern zu erwidern. Wie er über den Platz kam! Wie er den Stock schwang und leicht gegen die Masten der Lampen schlug! Vielleicht pfiff er sogar, ich weiß es nicht, jedenfalls, wir beobachteten ihn vom Fenster und hatten das Gefühl, einen glücklichen Mann zu sehen, der zu seinem Prozeß eilt. Verdacht? Nein, Christine, er hatte keinen Verdacht, er glaubte, daß die angesetzte Verhandlung gegen ihn der Lohn für seine Hartnäckigkeit war, mit der er die Anklage gegen sich selbst betrieben hatte. Er hat bis zuletzt nicht gemerkt, daß es eine Scheinverhandlung war, mit der wir ihn endgültig von seiner Sucht heilen wollten, von seinen krankhaften Selbstbezichtigungen, mit denen er allen auf die Nerven ging. Wir wollten ihn los sein, darum hatten wir den Plan im Büro entwickelt, darum hatten wir uns verabredet, Olaf, Dieter und Günter spielten mir zuliebe mit, na, du kennst sie ja; sie wollten mir helfen. Und sie waren

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