Einundzwanzigster Juli
schützen, die unbeweglich über Berlin hängt.
Wir passen uns dem Rhythmus des Klopfens und Hämmerns an. Unmöglich auszubrechen, auch nicht, als es vorbeigeht an der evangelischen Kirche, deren offenes, letztes Seitenschiff sich wie eine Hand um staubige Kleiderbündel wölbt, die in einer Reihe auf dem Boden liegen. Ich ahne, was sie sind, sehe ausgestreckte Beine, Füße mit und ohne Schuhe. Erst die nächste Kreuzung befreit uns in eine Querstraße, in der Leben herrscht.
Mehr Leben, als jemals sichtbar war! Vor aller Augen wird gekocht, gegessen, geschlafen, Klavier geübt. Seitenwände stehen noch, Nachbarhäuser stützen sich gegenseitig. Vorn ist nur noch Panorama.
»Starr den Leuten nicht in die Stube!«, murmelt meine Mutter.
»Aber was machen sie bloß, wenn der Winter kommt?«
Über unseren Köpfen legt eine andere Mutter ihr Baby ins Bett, prüft kritisch den Stand der Sonne und justiert die Wolldecke an der aufgespannten Wäscheleine. Uns, die sie fast anfassen könnten, nimmt sie gar nicht wahr; sie lupft und zupft und überdenkt mit langem Blick zum Himmel die voraussichtliche Wanderung der Elemente in den nächsten zwei Stunden. Wann die Fliegerwiederkehren, liegt nicht in ihrer Hand, aber kein unkontrollierter Sonnenstrahl darf ihr Kleines treffen.
»Der Winter?« Mutter lacht kurz auf. »Der Winter ist noch lange hin. «
Sie überlässt es mir, aus diesen Worte herauszulesen, was sie denkt. Variante eins: Bis zum Winter ist die Wunderwaffe im Einsatz und der Krieg gewonnen. Variante zwei: Bis zum Winter sind wir tot, umgekommen in den Terrorangriffen der Briten und Amerikaner.
Mit Unbehagen stelle ich fest, dass ich meine Mutter nicht einzuschätzen weiß. Welcher Variante neigt sie zu? Und ich?
Vor drei Wochen hätte ich noch eine Antwort gehabt. Jetzt wäre ich gern bereit, die ihre zu übernehmen, egal welche. Ich brauche dringend wieder eine Antwort! Aber sie sagt nichts. Also erdenke ich Variante drei: Was schert uns der Winter? Jetzt haben wir andere Sorgen!
Das stimmt auf jeden Fall, man braucht sich nur umzusehen.
In Oschgau bringen sie jetzt den ersten Schnitt ein. Die Heuernte wird gut; seit der Mahd vergangene Woche hat es nicht geregnet. Den Duft von frischem Heu kann ich augenblicklich wachrufen, und wie es kratzt und pikt, wenn es unter die Kleidung gerät. Komisch, dass man leibhaftig in Berlin in seinem Zimmer stehen kann, und alles Fühlen ist noch in Oschgau.
»Die meisten deiner Sachen haben wir aufs Schloss gebracht«, erklärt Mutter, »da sind sie sicherer, und, nun ja, wir brauchten auch Platz ...«
Das sehe ich: In meinem Bett, korrigiere: meinem ehemaligen Bett, schläft bereits jemand und die Packung Beruhigungstabletten auf dem Nachttisch ist sicher auch nicht für mich. Den Haarschopf unter der Decke wird Mutter mir wohl später vorstellen.
Ich sehe mich um. Schrank, Bett und Regal erkenne ich wieder, aber all die Kleinigkeiten, die hier einmal lagen und standen undden Raum zu meinem Zimmer machten, sind verschwunden. »Onkel Yps hat alles mitgenommen. Auch von mir. Siehst du?«
Es stimmt. Bis auf die Möbel ist fast alles weg. Gemälde, Fotos, Teppiche, die gestickten Kissen von Großmutter und die Zeichnungen von Fabian. Drei Stockwerke unseres Hauses stehen noch, aber Mutter hat die Wohnung verloren gegeben.
»Wieso Onkel Yps? Was macht denn der in Berlin?«
»Er hat Georg und Eckhardt geholfen. Irgendwas Wichtiges, hatte nicht einmal Zeit, zum Abendessen zu kommen. Aber offenbar sind sie fertig. Vor vier Wochen rief er an, er ginge zurück, er habe einen Lastwagen organisiert und noch Platz für ein paar Sachen von uns ...«
Retten, was zu retten ist!, geht mir durch den Kopf. Als könne sie meine Gedanken lesen, fragt Mutter: »Philippa, warum bist du zurückgekommen?«, und nur der pfeifende Wasserkessel bewahrt mich vor einer Antwort.
Als wir ankamen, brannte überall in der Wohnung Licht und im Spiegel gegenüber der Eingangstür trafen sich ihr und mein überraschter Blick. Zwei Jahre nur? Es scheint, als sei viel mehr Zeit vergangen. Wir sind jetzt gleich groß, gleich ernst, gleich braunhaarig, mit breitem Mund und dichten Augenbrauen. Aber verbindet uns das? Es ist die Lautlitzer Familienähnlichkeit, mehr nicht, und nach einem flüchtigen, halb verlegenen Tätscheln meiner Wange eilte Mutter mit den Worten: »Strom, das müssen wir ausnutzen!«, unverzüglich in die Küche, um Töpfe und Kessel aufzusetzen.
Nun bollert Wasser auf
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