Einundzwanzigster Juli
schlagen die Augen nieder und beten etwas leiser weiter.
»Ich hab Sie was gefragt!«, keift die Bechtolf.
»Herrje, Frau Bechtolf, es ist ein Gebet!«, ruft Mutter ungeduldig.
»Aber nicht in meinem Keller! Sünder, so eine Unverschämtheit! Beten Sie etwas anderes!«
Plötzlich ist es ganz still. Das Dröhnen ist noch da, die Sirene auch, aber beides in den Hintergrund gedrängt von der Gefahr bei uns im Raum. »Eine Sache haben selbst die uns nie verbieten können«, sagt die größere der Frauen kampflustig, »und das ist das Gebet.«
Oh weh. Die zwei kennen Frau Bechtolf nicht. Es war keine Zeit, ihnen zu sagen, dass man, wenn sie loslegt, besser den Mund hält. »Lasst sie nur reden«, hat Vater uns angewiesen. »In Deutschland gibt es zu viele Leute wie die Bechtolf, da muss man nicht auch noch zuhören.«
Frau Geheimrat Becker macht eine leichte Kopfbewegung zu den Frauen hin, die irgendwo zwischen Kopfschütteln und Nicken liegt – Warnung und Zustimmung zugleich.
»Das hab ich jetzt aber gesehen, Frau Geheimrat!«, schreit die Bechtolf.
Da tut die Frau Geheimrat etwas Ungeheuerliches. Sie sagt: »Und wenn schon. Wir wissen doch alle, wer den Hausmeister Schmidt auf dem Gewissen hat.«
Peng! Die erste Bombe, die an diesem Nachmittag in Berlin einschlägt, kommt nicht aus einem Flugzeug. Die Bechtolf schnappt nach Luft. »Gewissen . ?«, spuckt sie. »Ich habe einen Sohn im Feld verloren!«
»Dafür konnte Herr Schmidt aber nichts!«, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Frau Becker kennt jetzt kein Halten mehr.
»Putzi!«, raunt Herr Geheimrat und zupft seine Frau am Ärmel. Irgendwo draußen donnert es.
Frau Bechtolfs Stimme zittert. »Mein Friedrich«, sagt sie, »mein Friedrich ist nicht gestorben, damit unser heiliges Deutschland in den Schmutz gezogen wird.«
»Von unserem heiligen Deutschland ist nicht mehr viel ü. «, erklärt Frau Becker, unterbrochen von einem kräftigen Hustenanfall ihres Mannes. Frau Bechtolf hat trotzdem genug gehört, sie schreit: »Herr Geheimrat, Sie als unser Luftschutzwart werden die Anwesenden jetzt zur Ordnung rufen, sonst muss ich Meldung machen!«
»Das tun Sie doch sowieso«, hetzt Frau Becker.
»Ruhe jetzt!«, bestimmt Herr Becker mit letzter Kraft, und die Frauen im Keller scheinen sich daran halten zu wollen, denn mit einem Mal hört man wieder das böse Knattern der Flakgeschütze und das unbeirrte Dröhnen der Bomber, die uns auf dem Weg zu einem hoffentlich weit entfernten Ziel überfliegen. Auch unsere Jagdflieger müssen da oben sein; mit leisem Klirren fallen Geschosshülsen auf die Straße.
Das ist er also: mein erster wirklicher Fliegerangriff. Müsste ich nicht Angst empfinden? Vielleicht kommt das noch. Im Augenblick denke ich nur: Und deswegen schickt man die Kinder aufs Land, wo noch Schlimmeres passieren kann . !
Eine Stimme neben mir sagt: »Ich habe auch einen Sohn im Feld verloren.«
Ich vergesse zu atmen. Starre vor mich auf den Boden, wo mal wieder gefegt werden müsste.
»Ich bin nicht sicher, ob mein Fabian überhaupt wusste, wofür er gestorben ist.«
Nein. Nein, das ist nicht Mutter, bitte nicht! Ich hatte so sehr gehofft, das wäre vorbei .
»Wovon ich aber überzeugt bin«, sagt sie, »ist, dass wir uns alle werden rechtfertigen müssen. Das Wort Sünder beleidigt weder mich noch meinen Sohn.«
»Rechtfertigen für was?«, kontert Frau Bechtolf. Aber sie schreit nicht mehr; sie klingt so dumpf, als spräche sie in eine Höhle hinein.
»Für alles, was durch uns Deutsche in die Welt gekommen ist. Ich bin sicher, jedem von uns fällt dazu etwas Eigenes ein«, erwidert Mutter.
Einen Moment ist es ganz still. Dann sagt die Bechtolf schneidend: »Wenn ich Sie nicht melde, Frau Bredemer, dann einzig Ihrem Mann zuliebe, der im Feld steht. Ihr Sohn würde sich im Grabe umdrehen, wenn er hören könnte, wie Sie sein Andenken besudeln! Pfui!«
Sie wendet sich ab, dreht das Gesicht zur Wand. Auch die Beckers, selbst Frau Koch, vermeiden es jetzt, in unsere Richtung zu schauen. Nur die fremden Frauen am Tisch suchen den Blick meiner Mutter und ich wundere mich, dass sie so kühn ist zurückzulächeln.
Das erste Mal, dass ich Mutter Fabians Namen sagen höre, ist also in unserem Luftschutzkeller. Und sie spricht nicht mit mir, sondern mit der alten Bechtolf.
Wäre mein Bruder in Russland gewesen, hätte ich vielleicht etwas geahnt. Im Sommer 42 redeten ja alle über den Kaukasus und die bevorstehende Sommeroffensive, und
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