Eis und Wasser, Wasser und Eis
selbst und ist erstaunt. Hat sie ihm wirklich gesagt, er solle die Schnauze halten? Ja, das hat sie. Und sie genießt es, sie genießt es, ihn zur Unterwerfung zu zwingen. Einen Moment lang steht sie still da, lauscht auf den Flur hinaus. Alles ist wie immer. Das Herz der Oden schlägt. Bum. Bum. Bum.
»Eins noch«, sagt sie dann und öffnet die Schranktür neben sich, ohne den Griff um sein Haar zu lockern. Tränen laufen ihm über die Wangen, aber er schluchzt nicht, er weint nicht. Es ist der Schmerz der Kopfhaut, der seine Tränen hervorbringt. Er muss dort sehr empfindlich sein. Gut. Einen Moment lang kann sie selbst spüren, wie weh es ihm tut, aber das bringt sie nicht dazu, den Griff zu lockern. Ganz im Gegenteil. Sie zieht noch fester an seinem Haar, während sie mit dem Springmesser in der Hand im Schrank herumstochert. Schließlich findet sie, was sie sucht. Holt eine Plastiktüte hervor und schüttelt sie vor Robban auf, Messer und Plastiktüte in derselben Hand haltend.
»Hier«, sagt sie. »Das ist eine Plastiktüte. Und jetzt wirst du mit ihr über den Boden kriechen. Ich gehe neben dir und halte dich am Haar fest, also keine Sorge. Ich werde nicht verschwinden. Und wenn wir an Björns Kopf angekommen sind, bei dieser hübschen Puppe, die du aus Björns Kopf gestaltet hast, dann steckst du sie in die Plastiktüte. Und dann knotest du sie fest zu und gibst sie mir. Denn ich will deine DNA haben. Ist doch logisch. Und dieser Kopf da ist ja wohl voll mit deiner DNA. Oder? Und wenn mir etwas zustoßen sollte, dann wird er auftauchen. Darauf kannst du dich verlassen!«
Er jammert, während er kriecht. Er schluchzt, als er angekommen ist. Aber er tut wie geheißen, und Susanne geht die ganze Zeit neben ihm, packt ihn fest an seinem langen grauen Haar. Führt ihn dann zur Tür. Nimmt ihm die Tüte ab. Lässt ihn über die Türschwelle kriechen. Lässt sein Haar los, als er draußen auf dem Flur ist, dreht sich um und schlüpft sofort in ihre Kabine zurück, schlägt die Tür zu. Schließt ab.
Lehnt sich gegen die Tür und bricht in Tränen aus.
Wer ist sie? Was ist aus ihr geworden?
Sie traut sich natürlich nicht zu schlafen. Kauert stundenlang auf ihrer Koje; die eigenen Beine umschlungen, Björns Springmesser in der Rechten haltend, lauscht sie ängstlich auf den Flur hinaus. Draußen ist es still. Es scheint, als wäre sie der einzige lebende Mensch an Bord der Oden. Sie legt die Stirn auf die Knie und versucht sich zu erinnern, will erzwingen, dass jede Sekunde von dem, was sich soeben zugetragen hat, auf ewig in ihrem Gedächtnis bleibt. Aber es will ihr nicht gelingen. Andere Bilder drängen sich ihr auf. Inez, die sie voller Verachtung ansieht, sagt etwas in der Richtung, dass sie aussehe wie eine geschminkte Leiche. Birger stolpert die Treppe in der Svanegatan hinunter, er fällt zum hundertsten Male die Treppe hinunter und verstreut die blauen Schreibhefte seiner Schüler auf dem Boden. Björn steht auf einer Bühne und singt, doch plötzlich verschwindet er, plötzlich sitzt sie selber da, mit offenem Mund, unter dem Rock eines anderen Mädchens. Eva wirft ihr einen verächtlichen Blick zu. Und Elsie steht auf dem Stora torget in Nässjö, schaut Susanne an und sagt es. Das Allerwichtigste.
Susanne hebt den Kopf. Sie hat tatsächlich gelernt, sich zu verteidigen. Was das Leben nicht unbedingt einfacher macht, aber dennoch weiß sie, dass sie niemals aufgeben wird. Sie wird sich bis zu ihrem letzten Atemzug verteidigen. Denn wenn sie sich nicht verteidigt, dann kann sie nicht leben. Dann ist ihr Leben kein Leben mehr.
Sie öffnet die Hand und schaut Björns Springmesser an. Lächelt. Dann schaut sie sich um, sieht, dass die Sonne scheint, dass sie einen funkelnden Goldstrahl durch ihr Fenster schickt. Es ist immer noch Nacht, aber die Photonen sind gekommen.
Susanne steht auf und greift nach ihrer Jacke. Jetzt wird sie an Deck gehen und es genießen, am Leben zu sein.
Leif Eriksson reckt und streckt sich, blinzelt, versucht die Schläfrigkeit abzuschütteln.
Das ist die schlimmste Zeit der Nachtwache. Kurz nach drei Uhr. Dann werden die Augenlider schwer, der Schlaf versucht das Regiment zu übernehmen, das ist die Zeit, in der er manchmal anfängt zu träumen, obwohl er wach ist. Das ist nicht gut. Vielleicht sollte er noch eine Tasse Kaffee trinken.
Er schaltet den Autopiloten ein und steht auf, geht zur Kaffeemaschine, sieht aber schon von Weitem, dass die Kanne leer ist. So ein Mist.
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