Eisenkinder
Jahren zuvor ein paarmal an Russisch-Bezirksolympiaden teilgenommen.
Solche Olympiaden fanden dauernd statt, und es galt als Auszeichnung, daran teilzunehmen, es gab Mathe-Olympiaden, Chemie-Olympiaden, Spartakiaden und Wettkämpfe, die »Mach’s mit – mach’s nach – mach’s besser« hießen.
Die DDR war ein kleines Land ohne große Ressourcen, das unbedingt in der Welt anerkannt werden wollte. Als wichtigster Rohstoff galten die Menschen, es war wichtig, Talente früh zu entdecken. Auf die Herkunft kam es nicht an. Wer sich in einem Wettbewerb hervortat, wurde weiter gefördert, egal, ob man das Kind eines Lehrers oder eines Schlossers war. Es gab nicht nur die zehnklassige Einheitsschule, es gab spezielle Schulen für jedes Talent, Sportschulen, Sprachschulen und naturwissenschaftliche Schulen.
Der Staatsratsvorsitzende Erich Honecker, der schon an der Spitze der DDR stand, bevor ich geboren wurde, und dort fast bis zu ihrem Ende bleiben sollte, hatte einmal gesagt: »Jeder Junge und jedes Mädchen soll sich nach seinen Fähigkeiten entwickeln.« Leistungsdenken war Staatsräson.
Einmal hatte ich zu meiner eigenen Überraschung eine Olympiade gewonnen und einen Zwanzig-Mark-Büchergutschein als Geschenk erhalten. Den Gutschein setzte ich in ein Spanisch-Lehrbuch mit dunkelrotem Einband um. Ich saß in der Schule und konnte es nicht erwarten, mit meinem außerschulischen Programm weiterzumachen. Jeden Nachmittag setzte ich mich mit dem Spanischlehrbuch auf dem Schoß hin und schrieb mir Vokabeln heraus.
Como estas?
Yo soy bien, y tu?
Como te llamas? Yo soy Sabine.
Ich lernte kleine Dialoge und redete mit mir selbst Spanisch. Ich mochte den Klang und die Melodie der Worte. Es klang warm, melodisch, gefühlvoll. Mit jedem Wort träumte ich mich ein bisschen weiter weg aus der DDR .
Mein Deutschlehrer hielt mich für begabt. Er hatte mich eines Tages gefragt, ob ich Lust hätte, auf eine andere Schule zu gehen, die Sprachtalente fördern würde. Er erzählte von der Französisch-Klasse. Er nannte sie »Talente-Klasse«. Normalerweise gingen die Schüler in der DDR zehn Jahre gemeinsam zur Schule, danach zwei Jahre weiter bis zum Abitur. Ich würde bereits ab der neunten Klasse auf die EOS gehen. Allerdings, fügte er hinzu, müsste ich in ein Internat ziehen. Eisenhüttenstadt lag zu weit weg, um täglich zu pendeln.
Meine Zukunft im Dorf schien absehbar: Ich könnte Melkerin im Kuhstall, Verkäuferin oder Sekretärin werden, einen Traktorfahrer namens Ronny oder Maik heiraten und mit 19 ein Kind bekommen, das ich Sandy nannte. Ich träumte von Größerem. Ich wollte etwas Eigenes schaffen.
Ich dachte, wenn ich in diese Schule gehen würde, könnte ich Abitur machen, studieren, vielleicht sogar später im Ausland arbeiten. Der Gedanke war so aufregend, dass ich kaum stillstehen konnte, meine Hände wurden feucht. Ich sagte dem Lehrer, er solle mich zu der Aufnahmeprüfung anmelden. Er fragte, ob ich nicht erst meine Eltern fragen wolle. Aber ich konnte sehr überzeugend sein.
Als ich meinen Eltern von der Schule in Eisenhüttenstadt erzählte, waren sie skeptisch. Mein Vater sagte, ich sollte lieber die Schule bis zur zehnten Klasse zu Ende machen und danach in der Kreisstadt einen Beruf lernen, in dem ich gut verdienen würde. Sekretärinnen und Krankenschwestern würden immer gebraucht. Mein Vater war Dreher. Er hatte die Ideologie des Arbeiter- und Bauernstaates verinnerlicht: Akademiker galten nichts für ihn, Studieren hielt er für Zeitverschwendung.
Meine Mutter sah das anders: Ich sollte nicht auf meinen Vater hören. Weil er selbst kein Abitur habe, hätte er eine Abneigung gegenüber höherer Bildung. Meiner Mutter gefiel die Vorstellung, dass ihre älteste Tochter auf eine bessere Schule gehen sollte. Sie ließ nur die Besten gelten. Sie rezitierte beim Abwaschen gern Goethe.
Sie war die Erste in der Familie, die Abitur gemacht hatte. Wollte Richterin werden. Doch nach nur einem Jahr hat sie ihr Jurastudium abgebrochen, aus Gründen, die ich damals nie ganz verstanden hatte. Später, während dieser Recherche erst erfahre ich, dass sie unter Druck gesetzt worden war, weil sie sich in der Jungen Gemeinde engagierte. Sie war keine Dissidentin, sie ging ins Pfarrhaus, weil es dort Bücher gab und sie über Themen reden konnte, die zu Hause niemand interessierten. Trotzdem wurde sie bedroht. Sie sollte ihre politische Meinung überdenken, sonst werde sie exmatrikuliert. Meine Mutter ging,
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