Eisenkinder
meisten meines Alters, auch nicht ein, was ich ändern sollte. Erst später, nach der Wende, sollte ich merken, wie sehr mich die DDR geprägt hatte. Dass das politisch-gesellschaftliche Indianerspiel mehr als ein Spiel war.
In der Aufnahmeprüfung ging es mir einzig und allein darum, an dieser Schule aufgenommen zu werden. Das war die erste Etappe auf dem Weg dahin, etwas Großes zu schaffen. Die zweite Etappe würde das Studium sein. Ich erzählte, dass ich später gerne im Ausland arbeiten würde. Vielleicht für die Wochenpost , das war eine Zeitung, die bei uns zu Hause immer herumlag und die man, anders als die meisten Blätter, auch lesen konnte. Die Lehrer machten sich eifrig Notizen. Frau Koschke fragte, ob ich denn auch regelmäßig die Junge Welt las, das Zentralorgan der FDJ ?
Ja, log ich. Selbstverständlich.
Hat Ihre Familie West-Kontakte, hakte die Direktorin nach. Ich zupfte an den Ärmeln meines Kleids aus dem West-Paket, dachte an Onkel Ulf aus Hamburg, der uns im Sommer besuchte. Sollte ich erzählen, wie er sich in den Liegestuhl unter die Kirschbäume legte, sich Kuchen, Bier und Kartoffelsalat servieren ließ und immerzu rief: »Kinder, geht’s uns nicht gut?« Sollte ich erzählen, dass selbst Kapitalisten aus Hamburg sich in unserer kleinen DDR wohlfühlten? Ich merkte, dass die Lehrer auf meine Antwort warteten.
Nein, keine West-Kontakte. Ich lächelte schief.
Meistens war es in der DDR besser, sich zu schützen.
Zwei Wochen später kam ein Brief aus Eisenhüttenstadt. Es war der bis dahin schönste Tag in meinem Leben. Ich hatte die erste Etappe genommen. Ich war auf Kurs. Und dann kam alles erst mal anders.
Das Haus der jungen Talente
Sommer 2012. In der Mitte von Eisenhüttenstadt klafft ein Loch. Wo früher der siebte Wohnkomplex stand, liegt nun eine Brache. Die Häuser wurden abgerissen, die Menschen, die dort noch wohnten, umgesetzt, wie man so sagt. Als Nächstes kommt der sechste Wohnkomplex dran. Mehrere Blöcke stehen schon leer. Ein Abrisskran reißt die Plattenbauten ab, das Haus zerbröselt, als wäre es aus Teig. Ich mache ein paar Fotos, um die Vergangenheit festzuhalten. Der Abrissbagger rückt immer näher an meine alte Schule. Bald wird sie auch verschwinden.
Als der sechste und siebte Wohnkomplex in den siebziger Jahren entstanden, war von dem Optimismus der sozialistischen Gründerväter nichts mehr zu spüren. Die Bauherren gaben sich keine Mühe mehr, es musste schnell gehen und billig sein. Alle Gebäude wurden aus denselben Platten zusammengesetzt, die Wohnhäuser, die Kindergärten, die Schulen. Jetzt kommt der Kran und reißt alles wieder ab.
Ich blicke auf einen der Flachbauten. Die rostrote Farbe blättert ab, es sieht aus, als wäre die Schule eilig verlassen worden, wie nach einem Katastrophenfall, einer Epidemie. Aber es war nur die Wende.
In Fenstern scheinen noch dieselben Gardinen und dieselben Basteleien zu hängen wie damals, als wir Anfang der neunziger Jahre umziehen mussten. Ist das dort nicht eine Friedenstaube, die am Fenster klebt? Ich habe sofort wieder das Lied im Kopf, »Kleine, weiße Friedenstaube«.
Die Wände sind mit Graffiti besprüht, »Skin Girls Eisenhüttenstadt« steht an der Wand. Das hätte es früher nicht gegeben. Die Direktorin hätte uns mit Schrubbern zum Putzdienst geschickt. Die Direktorin lebt nicht mehr in Eisenhüttenstadt, und ihre Schule ist längst geschlossen. Alles wirkt verlassen. Durch die Risse in den Betonplatten wächst
Gras.
Ich suche nach der Kaufhalle, in der ich im Sommer 1990 nach der Währungsunion zum ersten Mal mit Westgeld einkaufte. Doch dort, wo sie stand, klafft auch ein Loch. Ich laufe ein paarmal um die leerstehenden Blöcke und kann es nicht fassen. Ich finde sie tatsächlich nicht mehr. Ich finde überhaupt kein Geschäft, nicht mal ein Café oder einen Kiosk. Vermissen das die Leute, die hier wohnen, nicht?
Immerhin, das Internat, in das ich 1989 zog, steht noch. Der Block ist grau und schmucklos, wie früher. Er stimmt mich komischerweise heiter, dieser ehrliche Plattenbau, der nicht vorgibt, etwas Besseres zu sein. Es ist früher Nachmittag, aus den Fenstern hängen Köpfe, als gebe es etwas zu sehen.
Ein Typ, Jogginghose, Kippe im Mund, ruft zu einem der Fenster nach oben: Was is’ los?
Eine andere Stimme erwidert: Ick koch mir watt, danach muss ick zum Arbeitsamt.
Ist das die Möglichkeit: Kaum steht man zwei Minuten hier, erlebt man so eine Klischee-Szene. Man könnte sich
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