Eisenkinder
»Lunik«, nach der Mondsonde. Jetzt begnügt man sich mit der Hauptstadt. Auf der anderen Straßenseite steht eine Reihe schmuckloser Wohnblöcke, sie sehen so aus, wie man sich heute die ganze DDR vorstellt. Grau und verwittert, sozialistische Tristesse. Ein Fenster steht offen, daraus hängt eine Deutschlandfahne mit einem Adler. Ich überlege, wofür das Gebäude des »Hotel Berlin« früher genutzt wurde. Ein Arbeiterwohnheim? Eine Berufsschule? Es ist lange her, dass ich in Eisenhüttenstadt gelebt habe. Ich habe die Stadt 1993 verlassen und wollte nie wieder zurück. Eigentlich.
In Eisenhüttenstadt endete meine Kindheit. Ich habe hier gelebt, während der Staat zusammenbrach. Von der Utopie blieben nur die Trümmer. Nicht wie nach 1945, so schlimm nicht, denn die Trümmer waren nicht sichtbar, aber ein bisschen wie ein Nachkriegskind konnte man sich schon fühlen.
Ich nehme die Abbiegung in die Leninallee, die jetzt anders heißt. Lindenallee. Da haben sie nicht gezögert, die Straßen wurden als Erstes umbenannt. Schilder lassen sich schnell ändern. Ich habe den neuen Namen schnell wieder vergessen, er war so auswechselbar, für mich bleibt es die
Leninallee.
Die Leninallee ist breit wie eine Flugschneise, links und rechts erheben sich Wohnblöcke. Die Zeit scheint in den vergangenen zwanzig Jahren stillgestanden zu haben. Alles sieht so aus wie damals, als ich mit meinem Dacia die Allee auf und ab fuhr. Nur etwas stimmt nicht.
Wo sind die Menschen hin? Giftgas? Ein Bombenanschlag? Ein Erdbeben? Die Leere lässt die Architektur noch bombastischer wirken. Die Einwohnerzahl Eisenhüttenstadts hat sich in den vergangenen zwanzig Jahren fast halbiert, noch dreißigtausend Menschen leben in der Stadt. Bis zum Jahr 2030 sollen es einer Studie zufolge zwanzigtausend sein.
Das Stahlwerk, für das die Stadt erfunden wurde, gibt es noch. Es wird inzwischen von ArcelorMittal betrieben und gehört zum Imperium des britisch-indischen Milliardärs Lakshmi Mittal. Es heißt, er möge Eisenhüttenstadt. Ausländer mögen die Stadt meistens. Sie sind hier nicht aufgewachsen. Von 12000 Beschäftigten des Stahlwerks EKO sind rund 3000 übrig geblieben.
Auch in der alten Ladenzeile haben ein paar Geschäfte überlebt. Es ist Sonntag, sie sind bis auf den Bäcker, der auch Kaffee anbietet, geschlossen. Es gibt eine Boutique, die »Mode für alle Anlässe« in großen Größen verkauft, einen Haushaltswarenladen, sogar eine Buchhandlung. Demnächst stellen Maxi Arland und die Geschwister Hofmann ihre neue CD »Wunderland der Träume« im Friedrich-Wolf-Theater vor. Am Ende der Straße blättert der Putz von den Wänden des »Hotel Lunik«. Dem Investor ging das Geld aus, seitdem steht die Ruine leer.
Nicht immer waren die Straßen so leer, so still, die Mauern so brüchig. Wenn man sich alte Bilder anschaut, laufen ganz viele Leute die Leninallee hoch und runter, es sieht aus wie in der Friedrichstraße in Berlin. Arbeiter aus der ganzen Republik strömten Anfang der fünfziger Jahre in das Stahlwerk, sie bezogen eine neue Stadt, die für sie errichtet worden war. 1953 kam der stellvertretende DDR -Ministerpräsident Walter Ulbricht, um ihr einen Namen zu geben, Stalinstadt.
Die Stadt hatte seit ihrer Gründung schon viele Namen.
Wohnstadt des Eisenhüttenkombinats Ost ( EKO ).
Stalinstadt.
Eisenhüttenstadt.
Hüttenstadt.
Hütte.
Hüttentown.
Iron-Hut-City.
Iron-Hut-City?
»Da wollen zwei Amerikaner eine Stadtführung«, sagte die Frau vom Tourismusbüro, als sie Jörg Weise im November 2011 anrief. Das Tourismusbüro Eisenhüttenstadt hat vor einigen Jahren entdeckt, dass man die Architektur der Stadt vermarkten kann. In der Agentur träumt man davon, in der Stadt Info-Säulen mit Kopfhörern aufzustellen, ganz Eisenhüttenstadt wäre dann ein Museum, ein in Stein gegossenes Geschichtsbuch. Auf der Website heißt es: »Eisenhüttenstadt, die frühere Stalinstadt, ist die erste industrielle Gründungsstadt der DDR und galt als gebaute Utopie. Errichtet ab 1950, repräsentiert sie einen nach Planung und Ausführung geschlossenen Städtetyp, der in dieser Form in Deutschland einmalig geblieben ist. Fachkundige Führung 2h.«
Der fachkundige Führer heißt Jörg Weise, ein Historiker, ein begnadeter Geschichtenerzähler. Er ist, um das gleich zu sagen, mein früherer Lehrer und Schulleiter. Geschichte und Geografie. »Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Klassenkampfes, vom Spartakusaufstand bis
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