Eiskalte Ekstase - ein Frankfurt-Thriller
sie redet. »Ich brauch einen Arzt … schnell … Blut …«
»Blut?« Devcon beugt sich zu ihr hinunter. »Deine Hand, ich weiß …«
»Nein … ich … ich wollte es dir schon die ganze Zeit sagen« – sie weint leise – »ehrlich! Aber ich wusste doch einfach nicht, wie …«
»Was sagen?«
»Scheiße! Es tut so weh!« Tränen rinnen über ihre Wangen wie Sturzbäche. Sie schluchzt. Hemmungslos. Zieht dann die Nase hoch. Und schaut Devcon an mit einem Blick, den er schon einmal gesehen hat und nie vergessen wird: der Blick beim Tod ihres Bruders. »Ich bin …« Sie schluckt. »Berichtigung, ich … ich war schwanger … Und es tut mir so leid, wirklich …« Ihr Kopf sackt wieder auf ihre Brust.
Devcon hockt neben ihr. Begreift nur langsam. Und fühlt – nichts. Beobachtet sich selbst aus sicherer Entfernung, wie bei einer Nahtoderfahrung. Er steht auf, langsam, wie in Zeitlupe.
»Oh wie schaurig, oh wie traurig«, kommentiert der Mann mit der Waffe.
Devcon hört die Worte. Und rührt sich nicht, verharrt. Gebrochen. »In Ordnung. Du siehst doch, du hast gewonnen.«
»Das stand nie außer Frage.« Der Mann fängt an zu kichern. Breitet generös die Arme aus. »Es ist, wie es ist, weißer Ritter. Wir sind beide Kämpfer. Und können deshalb nicht koexistieren.«
Devcon versteht nicht, registriert nur: Nicht mehr im Mündungsvisier.
»Doch du, du kannst mich nicht töten.« Wieder dieses Kichern. »Denn dann tötest du dich selbst. Und das Böse gewinnt. Und fortan bist du wie ich, aber für uns beide ist kein Platz …«
Der Rest der Worte wird übertönt von einem Schrei. Einem furchtbaren, nicht mehr menschlichen Schrei, hervorgebracht aus den Untiefen einer unzähmbaren Wut.
»Oh Gott, nein! Nicht!« Auch Tatjana Kartans Stimme bricht, als sie sieht, wie Devcon nach vorn schnellt. Der Schuss,er zerfetzt ihr fast das Trommelfell, sie duckt sich, schützt intuitiv ihren Kopf, während sie glaubt, das Herz würde ihr aus der Brust springen. Sie ist darauf gefasst, mitansehen zu müssen, wie Devcon zu Boden fällt. Ein zweiter Schuss peitscht durch den Raum. Kartan nimmt die Hände runter, reißt die Augen auf – und sieht den Mann mit dem Bubengesicht am Boden liegen. Ein Loch im Kopf, recht präzise zwischen den Augenbrauen platziert. Über ihm, offenbar nur durch einen Streifschuss an der Schulter verletzt: Jim Devcon, die SIG Sauer auf den Toten gerichtet – die er jetzt noch einmal abfeuert. Und noch einmal. Und noch einmal …
Nein! Nein! Nein!
Es ist nur dieses eine Wort, das sich bei jedem einzelnen Knall der Schüsse in Tatjana Kartans Gehirn manifestiert. In ihr Bewusstsein meißelt. Schmauchgeruch in der Nase und nahezu taub. In ihren Ohren ein ständiges Klingeln. Der Schmerz in ihrem Unterleib, der Schmerz in der durchbohrten Hand – alles nicht mehr präsent. Ihr gegenüber Eleonore Jonathans bebender Leib und deren vor Angst blutunterlaufene Augen.
Aber irgendwie ist es doch auch nur eine Art Notwehr , ist Kartans letzter Gedanke, bevor sie eine gnädige Ohnmacht umfängt.
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Auszug aus der Fallakte Neuberger
… Frank Neuberger, der Mann mit der Maske, war zuletzt in der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Klinikum der Johann-Wolfgang-von-Goethe-Universität stationär behandelt worden. In das Programm einer wohnortnahen Versorgung wurde er vor etwa einem Jahr überführt, unter den Auflagen, eine über die Agentur für Arbeit vermittelte Programmiererschulung zu absolvieren und seine Teilnahme an der Depressionsbewältigungsgruppe, in der er Susanne Lomborsky kennengelernt hatte, fortzusetzen. Neubergers Bluttat lag zu dem Zeitpunkt bereits achtzehn Jahre zurück: Er war sechzehn, als er seine Eltern mit einem Beil erschlagen hatte – nach einem wohl jahrelang erduldeten inzestuösen Martyrium. Die folgenden Jahre hatte er in verschiedenen Nervenheilanstalten verbracht.
Im Rahmen der verstärkten Sparanstrengungen im medizinisch-klinischen Bereich kam es auch im Fall Neuberger zu einer offiziellen Prüfung im Hinblick auf eine Möglichkeit zur Rückführung in die Gesellschaft. Drei Gutachter bescheinigten ihm eine positive Verhaltensprognose, woraufhin man ihn als weitestgehend therapiert entließ. Die tiefen Verletzungen im Analbereich, die er sich während seines Lebens in Freiheit selbst zugefügt haben muss, und das wieder und wieder, sind als Ausdruck seiner Psychose zu werten und waren bis zur rechtsmedizinischen
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