Eiskalte Hand
Ende bringen können, das wird dir gelingen. Vertraue mir! Gemeinsam können wir alles erreichen. Nichts wird dich aufhalten können. Alle werden sich dir beugen müssen und die Überlegenheit des Hauses Lun anerkennen. Du wirst es wieder auferstehen lassen und es nach ganz oben führen. Kannst du es nicht spüren? Die Macht – die grenzenlose Macht? Du brauchst nur noch zuzugreifen. Und sie ist dein.‘
Ein brennendes Verlangen stieg in Mia auf. In ihrer Brust kochte es. Sie meinte fast zu explodieren, und sie wollte die Macht. Sie wollte sie spüren – erleben – besitzen. Sie wollte es mehr als alles andere. Und es war ihr egal, was ihr Großvater sagte. Seine Warnungen konnten nicht bestehen vor der Kraft, die da in ihr wirkte. Er war doch nichts anderes als ein alter Schwätzer, schon längst tot und begraben. Aber das Artefakt lebte. Und wie es lebte! Das Gesicht ihres Vaters erschien kurz vor ihrem geistigen Auge. War sie es ihm nicht schuldig, sein Werk fortzuführen? War es nicht ihre Bestimmung? Hatte sie nicht deshalb überlebt? Alles schien auf einmal so klar und logisch. Zielstrebig griff sie nach dem Blutstein. Ihre Finger schlossen sich fest um das Artefakt. Der Stein fühlte sich kühl an – ganz anders, als sie es erwartet hatte. Sobald ihre Finger ihn berührten, begann er zu pulsieren – als würde sich ein Nebel darin befinden, der nun hin und her wogte. Vorsichtig und triumphierend zugleich hob sie ihn hoch.
In diesem Moment realisierte sie, dass Doran Zi die ganze Zeit über direkt neben ihr gestanden hatte. Seine Augen sahen blutunterlaufen aus. Zugleich sprühten sie vor Energie. Von Erschöpfung und Schwäche war auf einmal nichts mehr bei ihm zu spüren. „Bist du bereit das Ritual zu vollziehen?“, fragte er sie mit eindringlicher Stimme. „Welches Ritual?“, gab Mia zurück. „Dein Blut. Es ist der Schlüssel. Damit weckst du den Dä…, das Artefakt.“ Hastig biss sich der alte Mann auf die Unterlippe und grinste die junge Frau mit einem schiefen Lächeln an. Noch bevor Mia einhaken konnte, fuhr er mit seiner Erklärung fort. „Nur dein Blut, das Blut des Hauses Lun, weckt die Macht des Artefakts. Ist es erst einmal geweckt, dringt seine Kraft über das Blut in den Träger ein.“ Bei diesen Worten zog er ein schmales Messer aus der Tasche, das über und über mit Runen bedeckt war. „Schau her!“, flüsterte er Mia zu und zog sich die Klinge einmal quer durch die Handfläche. Die pergamentartige Haut sprang sofort auf. Das Blut des alten Mannes quoll heraus und benetzte das dunkle Metall. „Nun bist du dran!“ Mit zitternden Fingern und einem fanatischen Funkeln in den Augen reichte er Mia das blutgetränkte Messer. „Gib ihm dein Blut!“
Wie in Trance griff Mia nach der Waffe. Sie fühlte sich ganz leicht an. Nichts für den Kampf. Neugierig betrachtete sie die Runen auf der Klinge. Bewegten die sich gerade? Oder lag das nur an der schummrigen Beleuchtung? ‚Nur ein Schnitt, dann ist es vollbracht.‘ Ihr Herz raste.
Noch einmal – wie aus weiter Ferne – erklang die Stimme ihres Großvaters. ‚Es ist nicht alles wie es scheint.‘ , rief er ihr zu, ‚Die Macht wird dich ver…‘ Den Rest des Satzes konnte sie nicht mehr verstehen. Er verlor sich in der Distanz. Im gleichen Moment streckte der Blutstein wiederum seine geisterhaften Finger nach Mia aus. Wie ein Schirm legten sie sich um ihr Denken. Ihre ganze Aufmerksamkeit sollte dem Artefakt gelten. Alles andere war jetzt unwichtig. Sie musste einfach nur das Ritual vollenden.
Mia öffnete ihre linke Hand. Der Blutstein lag darauf und pulsierte langsam. Mit ihrer Rechten fasste sie die Klinge und bewegte sie Stück für Stück herab. Nur noch wenige Zentimeter, dann würde ihr Blut fließen und den Blutstein benetzen, und die Macht wäre entfesselt. Doran Zi neben ihr hielt die Luft an.
‚Es ist nicht alles, wie es scheint.‘ Die Worte ihres Großvaters waren plötzlich wieder da. Lauter und deutlicher als zuvor. Mia hielt inne. Einem gewaltigen Schreck gleich fuhr es durch ihre Glieder. Ihr Denken wurde auf einmal glasklar. Für einen winzigen Moment gab es keine Fragen, keine Rätsel. Alles ordnete sich auf wundersame Weise. Impulsiv schleuderte sie Blutstein und Dolch an die Wand. Klirrend fielen sie zu Boden.
‚ Nein! ‘, ertönte augenblicklich die Stimme des Artefakts in ihrem Kopf. Plötzlich hatte sie nichts Säuselndes und Verführerisches mehr an sich. Sie klang
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