Eiskaltes Herz
Sinn. Warum hatte sie das aufgeschrieben? Wegen der Zahl. Die Zahl war ihre Pin-Nummer. Dann war der Rest des Satzes vielleicht auch ein Passwort? Natürlich. Aber wofür? Es gab ja nichts weiter auf dem Handy, das ein Passwort benötigte. Facebook. Das hatte Leander schon geöffnet. Es war ihr ganz normales Facebook, kein Geheimnis tat sich auf, nur süßliche Kommentare und endloses »Gefällt mir«, brutal zum Stillstand gekommen am 30. April. Ich spielte mit dem Handy herum und starrte auf das Display. Was noch? Natürlich. Das Internet. Ich öffnete es und ging in die Favoriten. Eine Webseite für Online-Tagebücher. Der Benutzername stand noch drin – Clara. Hatte Leander den rausgefunden? Und das Passwort … Ohne groß nachzudenken gab ich Nussknacker als Passwort ein. Es funktionierte nicht.Nussknacker-Ballett auch nicht. Dann eben … Mariinski. Ich war drin. In Vanessas Onlinetagebuch. Im Tagebuch von Clara.
Ich überflog die Zeilen und Einträge und las mit wachsendem Entsetzen, wie Vanessa sich darin über alle lustig machte. Was sie über Leander schrieb …
… langweilt mich jetzt schon mit seinen kindischen Liebesschwüren … all diese Lemminge um mich herum … bleiben immer in ihrer Safe-Zone, tagein, tagaus, bis sie in den Sarg kippen … Langeweile umschlingt mich wie eine Krake … von M. was Neues bekommen und ausprobiert, Baby-Boy L. weigert sich weiterhin, auch nur einen Joint zu rauchen. Womit habe ich das verdient? Aber ich schaffe das schon noch. Ich hab es ja schließlich auch geschafft, ihn verknallt zu machen, obwohl er mich doch angeblich nicht wollte, haha. Und wenn ich ihn abstoße, rennt er womöglich zu dem struppigen Huhn zurück, die sich ihre Pandaaugen nach ihm ausheult, und das kann ich ja nicht zulassen. Sonst hätte ich ja verloren und ich verliere nie. Nie! … «
Ich schnappte schockiert nach Luft, dann las ich weiter.
… Baby-Boy L. ins Bett gebracht und auf ins wahre Leben … mit M. gevögelt, just for fun, gar nicht schlecht für einen alten Mann, haha … wie soll ich das beim Studium mit all den Lemmingen aushalten … gibt es irgendwo da draußen noch eine verwandte Seele, die sichwas traut, die ausbricht … Baby-Boy L. nervt, hat Spaß gemacht, ihn um den Finger zu wickeln, aber jetzt nur noch ätzend … Sollte mich von Clara in Night Owl umnennen … M. denkt, er ist ein großer Gangster, dabei ist er doch nur ein kleiner Vorstadtganove … ich werd ihm zeigen, wie dämlich er und seine Gang sind … Gang ist gut, bunch of losers … Vorstadtkrokodile wohl eher, haha … Dummheit muss bestraft werden … denkt M. ernsthaft, dass er jetzt irgendwelche Ansprüche auf mich hat? Wegen dem bisschen Sex? … Hat die fette Kuh von nebenan mich wieder beobachtet? …
Ich ließ das Handy sinken und rieb mir ungläubig über die Schläfen. Leanders Stimme hallte in meinem Kopf. Die Vanessa, die wir kannten, war nur eine Maske. Ein Fake .
Leander hatte das hier gelesen, da war ich mir jetzt sicher. Was für eine Demütigung. Was für ein Schlag ins Gesicht. Mit M. hatte sie ihn betrogen. Mit einem Drogendealer in Camouflage-Hosen und mit tätowiertem Finger.
Ich las die Zeilen wieder und wieder, drang in Vanessas Seele vor und fand ein kaputtes, egozentrisches Mädchen mit erfolgsgeilen Eltern und einer tiefen Verachtung für alle um sie herum. Was war mit ihr passiert, dass sie so fühlte? Dass sie nichts mehr fühlte? Im Haus war es still geworden, meine Eltern waren offenbar ins Bett gegangen. Bleiern sackten meine Augenlider immer wieder nach unten, ich konnte nicht mehr. Ich kopierte das Videoauf meinen Laptop, steckte das Handy in meine Tasche, machte das Licht aus und sah noch mal hinaus auf die Straße. Da stand jemand. Eine Figur mit Kapuzenjacke, die Hände in den Taschen.
Er sah direkt zu meinem Fenster.
Am nächsten Morgen ließ ich mich von meiner Mutter in die Schule fahren, Vanessas Handy in meiner Tasche wurde mit jeder Sekunde schwerer. Ich sah immer wieder nach hinten und aus dem Fenster, bis meine Mutter mich gereizt fragte, was denn nur mit mir los sei, und ich mich zusammenriss.
In der Schule war alles wie immer. Sosehr es mir in den letzten Wochen auch widerstrebt hatte, dorthin zu gehen – jetzt kamen mir unser Klassenzimmer, die Korridore mit ihrem Geruch nach Bohnerwachs, Schülerschweiß und Essen vor wie ein sicherer Hafen. Leander war nicht da, aber das überraschte mich nicht, dafür bat mich Julia erstmals wieder um Hilfe in
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