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Eiskaltes Herz

Eiskaltes Herz

Titel: Eiskaltes Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Rylance
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1
Juni
    Leander, wo bist du?
    Das Auto, in dem ich sitze, riecht nach kaltem Rauch. Ich starre auf den Hinterkopf des Albinos, ab und zu sehe ich ihn im Profil, wenn er aus dem Fenster blickt. Keine Ahnung, ob er wirklich rote Augen hat. Ich nenne ihn so, weil er weißblonde Haare und ganz helle Haut hat und eine Sonnenbrille trägt, obwohl es draußen kühl und diesig ist. Seinen Namen kenne ich nicht. Aber ich habe Angst davor, wozu er fähig sein könnte, und zwinge mich, nicht daran zu denken, sonst breitet sich Panik wie Lava in meinem Bauch aus. Rot glühende Lava, die alles in mir verschlingt und nur noch nackte Angst zurücklässt. Meine Finger krallen sich jetzt in das speckige Polster, ich richte meinen Blick starr nach unten. Auf dem Boden liegt eine leere, zerknautschte Schachtel Marlboro, Technoklänge hämmern leise vorn aus dem Radio.
    »Worauf warten wir eigentlich?«, frage ich erneut, obwohl ich mir doch geschworen habe, nichts mehr zu sagen. Der Albino hat keine meiner Fragen beantwortet. Und was ich wirklich meine, ist vielmehr:Was hast du mit mir vor? Was habt ihr mit mir vor? Und wo ist Leander? Leander muss mir helfen, wir gehören doch zusammen. Lena und Leander – für immer und ewig. Trotz allem, was passiert ist. Oder gerade deswegen.
    Der Albino trommelt jetzt mit den Fingern auf dem Lenkrad herum. Offenbar warten wir auf jemanden.
    »Ich muss mal«, versuche ich es verzweifelt, meine Stimme klingt dünn und piepsig. Die Stimme eines kleinen Mädchens, das sich jeden Moment in die Hose pinkeln wird.
    Dem Albino ist das egal. Sein runder Kopf mit den weißblonden Haarstoppeln ruckt im Takt der Musik, im Rückspiegel sehe ich nur die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille. Er beobachtet mich, auch wenn er so gleichgültig tut. Stumpfe, schwarze Löcher in einem bleichen Gesicht. Sie kommen mir vor wie tiefe Krater, in die ich fallen und in denen ich auf Nimmerwiedersehen verschwinden werde. Ich denke an meine Eltern, die jetzt ahnungslos nach Hause kommen, den Kühlschrank mit Einkäufen vollpacken, die Post durchsehen, ein paar Worte über ihren Tag in der Zahnarztpraxis und im Büro wechseln. Wann werden sie sich wundern, wo ich bleibe? Und ich denke an Leander, meinen Leander. An den unheilvollen Tag im April, an dem alles anfing. Etwas Heißes steigt in meiner Kehle hoch. Hastig kneife ich die Augen ein paarmal auf und zu. Nicht heulen, lieber nachdenken, wie ich hier rauskomme. Wie konnteich nur so blöd sein, hier einzusteigen? Jetzt sind die Türen verriegelt.
    Wir stehen vor einem Abrisshaus in einer heruntergekommenen Straße. Ein zerrissenes Plakat wirbt für die längst vergangene Mega-Sommerparty im Jahr 2007, die Haltestelle ist menschenleer und alles, was ich in der letzten Stunde gesehen habe, war eine streunende Katze und ein kapuzenvermummter Typ, der seinen Kampfhund ausführte.
    Jemand reißt die Beifahrertür auf.
    »Fahr los«, sagt eine Stimme. Ich habe sie schon mal gehört. Weiß, zu wem sie gehört.
    Mir wird übel.

2
April
    Auf dem Foto war Leander ungefähr acht Jahre alt. Er stand irgendwo an einem Strand, trug eine rote Mütze mit einem Garfield-Aufdruck und blickte missmutig in die Kamera.
    »Warum guckst du denn da so traurig?«, fragte ich ihn. Wir saßen in seinem Zimmer unterm Dach auf dem Bett und ich hatte mir das Album mit seinen Kinderfotos geschnappt, noch bevor er es verhindern konnte. »Ist es wegen der hässlichen Mütze? Meine Eltern haben mich als Kind auch immer unmöglich angezogen. Ich sag nur: kackbraune Strumpfhosen, die auch noch furchtbar gekratzt haben.«
    Leander fing an, an meinem T-Shirt herumzuspielen. »Nee, nicht wegen der Mütze. Ich glaube, ich war wegen was anderem traurig.«
    »Und warum?«
    Seine Finger schoben jetzt Stoff weg und strichen sacht über meinen nackten Bauch. »Na, weil ich dich noch nicht kannte.«
    Ich lachte. Es war genau das, was ich hatte hören wollen. »Du hättest mich doch damals gar nichtbeachtet. Kleine Jungs und kleine Mädchen mögen sich in dem Alter nicht besonders.«
    »Du wärst mir mit Sicherheit aufgefallen«, murmelte er, sein Mund presste sich jetzt auf meinen Bauch. »Ich hätte dir deine kratzenden Strumpfhosen ausgezogen und dich gerettet.« Er wurde drängender und ich kippte mit einem kleinen Quieken nach hinten auf sein Bett. »Was ist mit Mathe?«, quetschte ich zwischen zwei Küssen heraus, dabei war mir Mathe in diesem Moment so was von egal. Ich wollte doch auch, dass er

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