Eisprinzessin
dem zweiten Frühstück auf den Arm nehmen wollen, dann haben Sie ganz schlechte Karten, junger Mann. Meine Reaktionen bei Unterzucker sind berüchtigt.«
»Den Herrn Helmer hätte ich gern gesprochen«, sagte das Grischperl.
Sie warf einen kurzen Blick auf seinen Dienstausweis.
»Den Junior? Der ist heute noch gar nicht aufgetaucht. Ist was passiert? Wieder mit dem Auto?«
»Ich bin aus Ingolstadt, nicht aus Flensburg. Den Senior, bitte, wenn er da ist.«
»Sicher ist der da. Er sagt zwar jeden dritten Tag, dass er die Firma satthat und am liebsten alles verkaufen würde, und trotzdem ist er jeden Tag um halb neun da, da können Sie die Uhr danach stellen.«
Sie begleitete Meißner zu Helmers Büro, das leer war. Sie fanden ihn in einer Unterhaltung mit dem Vorarbeiter, der gerade die Handschuhe auszog und den Reißverschluss seines dicken Anoraks öffnete. In der großen Halle fuhren Gabelstapler die in Folie verschweißten Paletten mit Tiefkühlwaren von den anliefernden Lkw zu den Hochregalen. Von seinem Standort im ersten Stock hinter einer Glaswand konnte Meißner die Kälte in der Halle nur ahnen. Die unterzuckerte Sekretärin neben ihm fuchtelte mit den Armen, bis der Chef auf sie aufmerksam wurde.
Der Seniorchef setzte sich in Bewegung. Als er Meißner im Bürogebäude entgegentrat, reichte er ihm eine eiskalte Hand.
»Wie lange führen Sie den Betrieb schon?«, fragte Meißner.
»Aufgebaut habe ich ihn in den Siebzigern. In den Neunzigern haben wir noch einmal umgebaut und erweitert, und jetzt will der Junior auf vollautomatische Abläufe umstellen.«
»Er hat den Betrieb bereits übernommen?«
»Sagen wir mal so: Er ist dabei, den Betrieb zu übernehmen.«
»Vollautomatisch, bedeutet das auch Entlassungen?«
»Die Belegschaft wird eventuell noch einmal reduziert werden. Aber ich sag Ihnen, in einem Kühlhaus zu arbeiten ist gar nicht so schön, das dürfen Sie mir glauben.«
»Besser als gar keine Arbeit«, sagte Meißner. »Und der Betrieb läuft gut?«
»Wir haben seit drei Jahren wieder eine Auslastung von über fünfundsiebzig Prozent. Das war schon mal schlechter.«
»Und was lagern Sie hier?«
»Lebensmittel. Tiefkühlkost, Eiscreme, Schweinefleisch, Fisch. Unsere Kunden sind große Tiefkühl- und Supermarktketten. Die Umstellung wird meine letzte große Aktion als Unternehmer sein. Danach trete ich endgültig ab. Zeit wird’s.«
»Und wohin ziehen Sie, wenn Ihr Haus in Wettstetten verkauft ist? Ins Altmühltal, wie Ihr Sohn gesagt hat?«
»Ich hab bei Dollnstein ein kleines Schlösschen mit Jagd. Und einen Stammplatz bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth. Mehr brauche ich nicht.«
»Leben Sie schon lange allein?«, fragte Meißner. »Ich meine, ist es schon lange her, dass Ihre Frau gestorben ist?«
»Siebzehn Jahre«, antwortete Helmer.
»Ist sie an einer Krankheit gestorben? Krebs?«
Der Unternehmer nickte.
»Ihre Tochter Charlotte war damals zehn. Und Ihr Sohn?«
»Siebzehn.« Fast schwarze Augen blitzten unter buschigen grauen Augenbrauen hervor. »Was führt Sie zu mir, Herr … Rosner?«
»Meißner. Rosner heißt meine Kollegin. Die Neugierde führt mich her. Wissen Sie, warum Ihr Schwiegersohn so aufgebracht war?«
»Allein ist der ziemlich hilflos«, sagte Helmer. Es klang verächtlich.
»Sie haben die Polizei geholt, weil er in Charlottes Zimmer randaliert hat.«
»Das wäre Grund genug gewesen. Danach hat er sich wieder beruhigt, aber …«
»Aber?«, fragte Meißner.
»Aber dann hat er unten in der Diele das Exposé liegen sehen.«
»Das von der Immobilienmaklerin?«
Helmer nickte.
»Er wusste nicht, dass Sie vorhaben, das Haus zu verkaufen?«
»Ich habe keine Ahnung. Ich habe nicht mit ihm darüber gesprochen. Warum sollte ich auch? Jedenfalls ist er ausgerastet, als er es gesehen hat.«
»Wieso denn? Ich meine, was ist so schlimm daran?«
»Die Frage sollte eher sein, was ihn das angeht. ›Das könnt ihr nicht machen!‹, hat er gebrüllt. ›Doch nicht jetzt, wo Charlotte verschwunden ist!‹«
»Hängt Ihre Tochter sehr an dem Haus?«
»Wenn sie es tut, hat sie es jedenfalls nie gezeigt. Sie kommt ja auch nur zu uns raus, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt.«
»Könnte das vielleicht etwas mit Ihrem Schwiegersohn zu tun haben? Vielleicht hat sie gespürt, dass er sich im Haus nicht wohlfühlt oder nicht …«
»Sie kann mich ja auch ohne ihn besuchen.« Helmer zuckte die Achseln. »Mein Herr Schwiegersohn«, sagte er – vielleicht
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