Eisprinzessin
Schanze. Etwas, was er in Wirklichkeit noch nie getan hatte und auch nie freiwillig tun würde. Im Traum hatte es ihm jemand beigebracht, und nun stand er tatsächlich oben an der verflucht langen Anfahrtsspur, die sich am Ende aufdrehte wie eine Wasserrutsche. Er hatte Skier angeschnallt, elend lange, breite Dinger, die sich so schwer anfühlten, als wären sie aus nassem Holz. Sie waren wie an seine Schuhe geschraubt. Er mochte sich gar nicht genauer mit dem Unterbau beschäftigen, dem er anscheinend ausgeliefert war, stattdessen schaute er lieber in die weite Landschaft. Er war in den Bergen, und es war Sommer. Nirgendwo auf den Gipfeln auch nur ein Fetzen Weiß. Er würde also nicht auf Schnee, sondern auf einer riesigen grünen Plastikmatte landen, die in Schwimmbadgröße im Auslauf ausgebreitet war. Sie war von einem giftigen PVC -Grün, das alles andere als einladend wirkte. Bei einem Sturz würde es trotz seines dicken Anzugs bestimmt sehr wehtun.
Doch sein erster Sprung von der Schanze war gar nicht so schwer, wie er erwartet hatte. Jemand, wahrscheinlich ein Trainer, hatte ihm die Technik erklärt. Alles sei nur eine Frage der Balance und des Körpergefühls, hatte er gesagt. Meißner solle nur nicht ständig hinuntersehen und den Schanzenverlauf beobachten. Die eigene Position auf der Schanze, das Hineingleiten in den Absprung, darüber sollte er sich keine großen Sorgen machen und auch keine Angst vor dem Sprung selbst haben. Stattdessen sollte er das Fliegen genauso genießen wie das Landen und das Ausfahren, quasi den gelungenen Sprung.
Es war alles nur eine Frage der Balance. Auf den Körper achten, auf die Spannung, sagte ihm sein Lehrer, auf den Druck, der auf die Beine wirkt, und dann die Haltung einfach den Gegebenheiten anpassen. Änderte sich der Druck, sollte er die Position des Oberkörpers, der Arme, des Kopfes ändern. Alles hing von der Kunst ab, den Druck auszugleichen. Es war total egal, ob er fuhr oder flog. Ob er auf den Kufen durch die Anlaufspur glitt, in der Luft stand oder auf der grünen Matte ausfuhr, alles war völlig gleichgültig. Er sollte nur auf seinen Körper hören. Sein Körper würde schon wissen, was zu tun war. Und wenn der Körper es wusste, musste Meißner nur versuchen, dieses Wissen zu erspüren und dementsprechend zu handeln.
Im Traum fuhr er los, die Anlauframpe hinunter. Er nahm nicht bewusst wahr, wann der Übergang vom Fahren ins Fliegen kam. Die Landschaft unter ihm war grün und lieblich, und alles hatte seinen festen Platz, wie in einem aufgeräumten Büro. Auch das Näherkommen der Erde hatte nichts Bedrohliches. Meißner merkte nicht einmal, als er zur Landung ansetzte, spürte nur den sich verändernden Druck auf seine Beine und Füße und glich ihn durch eine leichte Bewegung des Oberkörpers aus. Es fühlte sich herrlich an, das Springen, das Durch-die-Luft-Fliegen, und das, obwohl er auf jedem Volksfest der größte aller anwesenden Hasenfüße war und selbst eine Fahrt im Calypso-Karussell, das ungefähr genauso alt war wie er selbst, ihm Angst machte.
Er landete auf der grünen Matte, die aussah wie struppiges, vom Wind geplättetes Gras auf einer Hochebene im Gebirge. Die starke Konzentration war dabei seine hervorstechendste Empfindung. Sie war stärker als die Angst, den Boden zu verlassen, ohne Hilfsmittel und technische Unterstützung zu fliegen, die Geschwindigkeit zu spüren, sich allem auszuliefern und nichts zu tun, es nur geschehen zu lassen und sich selbst beim Fliegen zuzusehen.
Ich bin im Traum tatsächlich geflogen, dachte Meißner, als er am Audi-Forum entlangfuhr, und es war ein starkes Gefühl gewesen. Megageil, hätte Kollege Fischer gesagt. Ach ja. Er hatte Fischer immer noch nicht ganz verziehen, dass er einfach so abgehauen war. Wegen eines Liebhabers, eines Figaros. Das klang nicht nur nach Operette, das war wahrscheinlich auch eine. Die, die weggehen, sind im Grunde immer besser dran, dachte Meißner. Sie brechen in etwas Neues auf. In ein Abenteuer, eine Ungewissheit. Ein Risiko schwingt immer mit, aber sie fliegen! Die anderen, die Zurückgelassenen, wursteln einfach im Altbekannten weiter. Was bleibt ihnen anderes übrig? No risk , wenig fun . War es das, was diesen Eberl so aggressiv machte?
* * *
Den leichten Wind kann man nicht hören, nur sehen. Er schaukelt die silbern glänzenden Äste der Olivenbäume, trägt ein verzögertes Plopp-plopp von den Tennisplätzen herüber. Viel näher ist das Geräusch der
Weitere Kostenlose Bücher