Eisseele - Schlieper, B: Eisseele
letzten Beweise – an sich nehmen will. Er springt auf sie zu, will sie ihr entreißen, Zoe geht dazwischen, wird brutal von Carl zur Seite gestoßen. In dem Moment, als Enya die Bilder mit einem Ruck teilt, knallt Zoe auf den Boden. Mit dem Gesicht auf die zerbrochene Bierflasche. Im ersten Moment denkt sie, es sei Bier, das ihr den Hals runterfließt. Doch dafür ist es zu warm. Es ist Blut. Viel Blut. Enya schreit auf. Zoe bleibt ganz ruhig. Sie tastet und fühlt einen langen Riss von der Schläfe herab bis zur Wange. Es tut weh. Endlich kommt der Schmerz. Sie lächelt. Es tut weh. Sie hat ihren Makel. Ihren sichtbaren Makel. Sie ist frei.
Den Termin bei der Polizei genießt sie fast. Lange musste sie auf Enya Alt einreden, bis die zugestimmt hat. Die Lehrerin wollte nur vergessen. Hat sich geschämt, dass sie sich in einen Sechzehnjährigen verliebt hatte.
»Ich fühle mich wie eine alte faltige Frau, die auf einen schleimigen Heiratsschwindler reingefallen ist, der ihr immer vorgesäuselt hat, jeden Zentimeter ihrer schlaffen Haut zu begehren. Ekelig.«
»Sie sind höchstens schlaff, wenn Sie nicht mit zur Polizei gehen. Ich gehe auf jeden Fall«, hatte Zoe geantwortet. Zoe ließ nichts aus. Nur den Moment, in dem Franzi ihr direkt auf den staubigen Boden ihrer Seele geguckt hatte, verschweigt sie. Das geht niemanden etwas an.
Auch die Schulleitung ist völlig überrascht. Zoe war Vorzeigeschülerin. Nun geht sie. Direkt nach der Verhandlung wird Zoe auf eine integrative Schule wechseln.
Noch vor der Verhandlung tagt ein anderes Gericht.
Sie hat am letzten Schultag in Saskias Tasche einen Zettel geschmuggelt: »Um 12 Uhr am Denkmal. Kim«.
Denselben Text mit Saskias Unterschrift findet Kim in ihrer Jeansjacke. Auch Julian findet eine Einladung in seiner Tasche. Die drei staunen, als plötzlich Zoe hinter dem Denkmal hervorkommt. Sie spricht sofort los, ehe jemand anderes was sagen kann.
»Ihr hattet recht. Ich war schlecht. Ich habe gelogen. Ich habe euch verraten. Ich habe auch mich selber belogen, mich selber verraten. Es tut mir leid, wenn ich euch gekränkt und verletzt habe. Ich wollte das nicht. Ich wollte auch ganz lange nicht ich selbst sein. Jetzt will ich es. Sorry für alles.«
Sie dreht sich um und geht. Sie hofft so sehr, dass sie Schritte hört. Dass sie eine Hand auf der Schulter spürt, vielleicht sogar eine Umarmung.
Nichts passiert.
Sie geht weiter, biegt irgendwann um die Ecke. Selbst wenn sie sich jetzt umdrehte, würde sie die drei nicht mehr sehen können.
Sie wacht spät auf am Samstag. Hat am Abend lange wach gelegen, um die verlorenen Freundschaften geweint. Aus dem Garten hört sie Kichern. Ihr Vater brüllt lachend: »Nicht noch mehr Sand.«
Neugierig geht sie runter, holt sich einen Kaffee und schleicht auf die Terrasse. Da stehen sie. Lilly, Kim, Saskia, Julian in einem Berg von Sand.
»Du trägst einen Hello-Kitty-Schlafanzug?« Lilly lacht laut.
»Ist mir klar, dass du mehr auf Prinzessin Lillifee stehst …«, antwortet Zoe und grinst zurück. »Kann ich fragen, was ihr da macht?«
»Wir möchten noch mal mit dir im Sand liegen. Wie damals in Den Haag«, sagt Saskia mit belegter Stimme.
Zoe kann nur nicken, ein Kloß schnürt ihr plötzlich die Kehle ab. Kim nimmt sie fest in den Arm. Zoe spürt etwas Nasses an ihrem Hals. »Achtung, mein Verband wird ja ganz feucht«, sagt sie mit belegter Stimme.
»Egal«, murmelt Kim und bleibt noch ein paar Augenblicke in der Umarmung.
Als sie Zoe freigibt, damit Saskia sie drücken kann, hört Zoe, wie sich Julian lautstark in sein Taschentuch schnäuzt. »Was ist jetzt mit der Strandparty?«, fragt er dann betont lässig.
Zoe genießt den Tag. Das Rumalbern, die Nähe. Sie kann gar nicht genug davon bekommen. Nicht genug von den Freundinnen und nicht genug von sich selber. Der neuen Zoe.
Über ihr Bett hat Zoe ein Foto gehängt. Es sind Franzis Augen. Es ist Franzis Blick.
Franzis Blick war Zoes Augenblick.
Birgit Schlieper, geboren 1968 in Iserlohn, hat Amerikanistik, Romanistik und Anglistik studiert, ihr Studium aber abgebrochen, als ihr ein Zeitungsvolontariat angeboten wurde. Seitdem schreibt sie unaufhörlich: von Einkaufszetteln und Post-its über Reportagen bis zum Tagebuch und Gedichten, für Nachrichtenagenturen, die SZ, in Lehrbüchern für den Deutschunterricht – und für cbt.
Von Birgit Schlieper sind ebenfalls bei cbt erschienen:
Polnisch für Anfänger ( 30291 )
Immer tiefer ( 303 68
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