EisTau
als Menschenfeind beschreiben? In einem positiven Sinn. Sind Ihnen Vögel lieber als Menschen? Fragen Sie meine Kinder. Glauben Sie nicht, daß eine zu starke Liebe zur Natur unweigerlich zu Gewalt gegen Menschen führt? Im Gegenteil, eine mangelnde Liebe zur Natur führt zu Gewalt, auch gegen Menschen. Sie setzen Tiere und Menschen gleich? Sie sind gleich viel wert. Ist nicht der Mensch ein höheres Wesen? Nicht daß ich wüßte. Wir lassen uns die Stimmung nicht vermiesen, zwei Rehe am Stadtrand, die Fahrzeuge bleiben stehen, die Rehe traben über das Feld, das Glas ist entweder halb leer, oder es läuft über, wenn er klopft, bleibt er, wenn er hobelt, geht er. Wir haben die Passagierliste, erstaunlich, wie viele VIPchen zusammenkommen, wenn man ein Schiff in die Antarktis schickt, ich will alles wissen über jeden von ihnen, vor allem über diesen Braunkohlemagnaten aus West Virginia, der halbe Berge abgetragen hat, bevor er sein Unternehmen an Patriot Coal verkauft hat, auch über den passioniertenVogelbeobachter, der im richtigen Leben Pornoproduzent ist, und über den Nachrichtensprecher, der beurlaubt wurde, weil seine Stimme verschwand, das sind die Geschichten, die wir brauchen, Carstens. Ich wühle natürlich nicht im Abfall, es handelte sich um Altpapier, ich habe vom Fenster aus gesehen, daß er Bücher in die Tonne wirft, ich war neugierig, ich bin zu der Tonne gefahren, obwohl sie um die Ecke ist, als hätte ich geahnt, was ich finden würde, die schönsten Sachen, bibliophile Bände, Erstausgaben, die lagen in der Tonne herum neben Pizzapackungen und Werbeblättchen, ich mußte die Bücher retten, ich wühle nicht im Abfall herum BREAKING NEWS GERETTETE PASSAGIERE KEHREN GLÜCKLICH HEIM BREAKING NEWS GERETTETE PASSAGIERE KEHREN GLÜCKLICH HEIM das ist ja blendend gelaufen
XII.
S 64°27´1´´W 62°11´5´´
Seit Jahren zum ersten Mal, seit dem heißesten aller Sommer, der auf andere heiße Sommer folgte, seit dem Sommer, als der Klimabericht, den wir im Juni publizierten, im August schon überholt war, zum ersten Mal, seit mein verlogener Alltag aus mir herausoperiert wurde und mein Gletscher verendete, dräute letzte Nacht kein Alptraum. Ich schlief ohne Zweites Gesicht. Beim Aufwachen fühle ich mich so wiederbelebt, als hätte ich mich einer Frischzellenkur unterzogen. Ich bleibe im Bett liegen, ein zaghaftes Licht schlüpft unter dem Vorhang hindurch. Ein Tag noch, ein Tag wie kein anderer. Paulina reckt sich. Draußen stampft ein Passagier auf seiner Morgenrunde vorbei. Im Licht über dem Nachtkasten wird das Gesicht von Paulina sichtbar. Wer bist du? frage ich. Ein verwunschenes Mädchen, antwortet sie, das sich in das Geschöpf verwandeln muß, das es nach dem Aufwachen als erstes erblickt.
– Was für ein grausiger Fluch!
– Ja, stell dir vor, es hätte der Chefkoch sein können. Aber ich habe Glück gehabt, ich habe dich erblickt.
– Das nennst du Glück? Du wirst dich in einen alten Mann verwandeln, in einen häßlichen alten Mann.
– Ich werde mich in dich verwandeln, in Zeno. Hör zu, das Märchen geht weiter, du bist auch verwunschen, von demselben Geist.
– Was ist das für ein Geist?
– Das ist ein Geist, dem alles durcheinandergeraten ist, du mußt dich in mich verwandeln.
– Ich habe das bessere Ende erwischt.
– Dann sind wir wirklich vereint, in unseren Erinnerungen als Zeno und Paulina, im Jetzt als Paulina und Zeno.
Sie streckt ihren Arm aus, über den Spalt zwischen den beiden Betten, unsere Hände verschränken sich, ich kenne keine verbindlichere Geste. Ich beginne ihre Finger zu massieren. Hast du Angst vor der Hölle? fragt sie mich unvermittelt, wir beide noch unter der Bettdecke, einander zugewandt. Ich kann ihr nicht sogleich antworten, ich konzentriere mich auf ihre an den Nägeln schmaleren Finger, ich versuche den Gedanken abzuschütteln, daß dies unser letztes gemeinsames Aufwachen sein wird. Mit meinem Zeigefinger berühre ich ihre Fingerkuppen, eine nach der anderen, ohne zu wissen, ob ihre Haut diese Berührungen aufbewahren wird. Wäre auch ich in ihrem Märchen aufgehoben und hätte ich noch einen Wunsch frei, so würde er lauten, daß zwischen dem eisigen Kontinent und der Insel Brabant die Lethe fließen möge.
– Die Hölle ist kein Ort, antworte ich schließlich, die Hölle ist die Summe unserer Versäumnisse.
Verwirrt blickt sie mich an, ihre Finger krallen sich in meinen Handrücken, ihr Daumen drückt mir
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