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Eiswind - Gladow, S: Eiswind

Titel: Eiswind - Gladow, S: Eiswind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gladow
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zu pressen. Danach bog er in seinem gewohnten Ritual jeden einzelnen seiner knochenlos wirkenden Finger zurück, als wolle er sie auf den Handrücken binden. Wie so häufig musste er bei dem Gedanken an den Ekel, den diese Angewohnheit früher bei seinen Mitschülern ausgelöst hatte, bitter grinsen.
    Ekel und Abscheu – das war die Form von Aufmerksamkeit, die ihm immer gewiss gewesen war und ihn in seiner Jugend stets begleitet hatte. Die empfundene Zurückweisung war immer noch so gegenwärtig wie die Angst, die er empfunden hatte, wenn sie ihn ausgelacht und gejagt hatten. Ekel und Angst.

    Er ließ seinen Kopf in alle Richtungen kreisen, überdehnte die Halswirbelsäule und wischte die aufkeimende Wut zur Seite. Dann rollte er seinen schmalen Rücken zu einem Katzenbuckel zusammen, formte, die schlaksigen Arme nach vorne ausgestreckt, ein »O« und atmete ein letztes Mal tief durch, bevor er seine Finger über die Tastatur schnellen ließ. Seine Hände gehorchten ihm blind. Er hielt einen Moment inne und ließ seinen Blick über die Liste der Anwesenden gleiten.
    Lara Croft, Pocahontas, Moonshadow5. Sie waren online. Es dauerte nicht lange, bis er Marilyn entdeckt hatte. Er ließ sich mit einem Seufzen in die Rückenlehne zurückfallen. »Da bist du ja, meine Schöne«, sagte er, bevor er zu schreiben begann.
    »Hallo, meine Liebe«, eröffnete er, weil er wusste, dass sie es mochte, wenn er sie so ansprach.
    »Du ahnst nicht, wie erschöpft ich bin«, fuhr er fort. »Ich habe meinen Anschlussflug in London verpasst und bin erst vor zwei Stunden in Hongkong gelandet. Sobald ich mein Clubsandwich verzehrt habe, werde ich ins Bett fallen müssen. Dennoch war es mir ein Bedürfnis, Dir wenigstens noch ein paar Zeilen zukommen zu lassen …«
    Er schrieb über die drückenden Temperaturen, die seine morgigen Besuche der Fabriken, die er abzuklappern hatte, nahezu unerträglich machen würden. Dabei formulierte er blumig und weitschweifig, wie Marilyn es mochte. Wie eigentlich alle es mochten, mit denen er im Chat zu tun hatte. Inzwischen war ihm klar, was sie gern hören wollten, wie sie tickten. Er war der Inbegriff
des Frauenverstehers, nach dem sie sich alle verzehrten, und hatte gelernt, wie man ihnen Erfolg und Wohlstand vorspielte, ohne dabei prahlerisch zu wirken.
    Zumeist trat er als Einkäufer größerer Textilunternehmen auf. Das gab ihm die Möglichkeit, seine permanenten Einsätze im Ausland als Rechtfertigung dafür zu nutzen, dass ein baldiges Treffen leider nicht möglich sei. Denn irgendwann wollten sie ihn immer irgendwann treffen. Er war ihre Hoffnung, ihr Jackpot. Denn letztlich war es doch das, worum es ihnen allen ging: den Jackpot zu knacken. Einen reichen Schnösel abzugreifen und solche Dumpfbacken an Kindern abzuwerfen, wie sie es selbst waren.
    Er verachtete die, die er anschrieb, ebenso wie die, die er vorgab zu sein. Seine Schulbildung war der einzige, wenngleich magere Profit, den er aus seiner Vergangenheit schlagen hatte können. Deshalb war er in seinen Rollen überzeugend. Seine Ausdrucksweise ermöglichte es ihm, sein Spiel zu lenken und glaubwürdig zu sein. Er war es, der die Schnüre zog und für den sie wie Marionetten tanzten.
    Im Chat imitierte er das Leben, das er hätte leben sollen. Das Leben, das SIE von ihm erwartet hatten. Vielleicht tat er es, weil er beweisen wollte, dass er alles hätte werden können, wenn er es nur gewollt hätte.
    Marilyn antwortete: »Wie schade, dass Du so viel arbeiten musst und wir uns, wie es scheint, auch in den kommenden zwei Wochen nicht kennenlernen können. Unser Timing ist wirklich hundsmiserabel!«

    Sie ahnt nicht, dachte er bitter, wie hundsmiserabel das Timing meines gesamten beschissenen Lebens gewesen ist. Hier war es ausnahmsweise mal gut.
    Er tastete nach der Schachtel Filterzigaretten, die neben seinem überquellenden Aschenbecher lag, und zündete sich eine Zigarette an. In gierigen, tiefen Zügen atmete er den heißen Rauch ein, um ihn dann durch seine geschürzten schmalen Lippen intervallartig wieder auszustoßen. Sein Blick folgte den bizarren Formen, die der Rauch im Licht des Bildschirms zeichnete, wenn die Ringe sich auflösten und die Rauchschwaden in Richtung Zimmerdecke aufstiegen, wo sie sich in der Dunkelheit verloren.
    Sein ganzes Leben zeichnete sich durch schlechtes Timing aus. Schon seinen ersten Atemzug im Leben hatte er zur falschen Zeit getan. Seine leibliche Mutter war erst fünfzehn gewesen, als sie ihn

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