Eiszart
Papa mitgebracht hat?«
»Lass dir das von deinem Vater erklären. Ich habe für heute genug!«
Mit grimmigem Blick stampfte er die Treppe hinunter.
»Wollen Sie wirklich schon gehen? Ich mache Ihnen einen Tee, wenn Sie möchten. Der wird Sie beruhigen.«
Giffard blieb stehen. »Das ist sehr lieb von dir, Lorraine. Dennoch muss ich ablehnen. Die ganze Aufregung bekommt meinem Herzen nicht. Und der Tee wird daran nichts ändern. Vielleicht ein anderes Mal, sei mir nicht böse.«
»Wie Sie meinen.«
Lorraine wollte gerade die Tür öffnen, da stieß sie fast mit ihrem Vater zusammen, der gerade aus dem Zimmer trat.
»Ich hätte aber gern einen Tee«, sagte er sanft, trat in den Flur und zog die Tür hinter sich zu. Zu Lorraines Verwunderung schloss er sie ab.
»Natürlich, Papa. Ich kümmere mich darum. Nur sag mir doch vorher etwas.«
»Ich werde dir sogleich alles erklären«, versprach er und hob die Hände.
Lorraine nickte, lief an Giffard vorbei nach unten in die Küche, setzte heißes Wasser auf und nahm eine Dose mit chinesischen Teekräutern aus dem Regal, die Etienne ihr geschenkt hatte. Der alte Poméroy verkaufte nicht nur Medizin, sondern handelte auch mit exotischen Gewürzen und Teekräutern, die er immer dann mitbrachte, wenn er geschäftlich in Paris zu tun hatte. Paris – Lorraine dachte oft an die Stadt, in der sie einen Teil ihrer Kindheit verbracht hatte, bevor sie nach Gagnion gezogen waren. Irgendwann würde sie zurückkehren, um sich die Metropole mit den Augen einer erwachsenen Frau anzusehen. Bis dahin würde das kleine Städtchen, an das sie viele schöne Erinnerungen knüpfte, ihre Heimat bleiben. Mit einem Schmunzeln dachte sie an ihre erste Begegnung mit Etienne, der ihr damals die Umgebung, die Weinberge und den Wald gezeigt und sie über das Heimweh hinweggetröstet hatte. Kaum zu glauben, dass aus dem kecken Knaben von damals ein stattlicher, junger Mann geworden war, der ihr noch dazu starke Avancen machte. Mit halbem Ohr hörte sie, dass ihr Vater sich mit Giffard versöhnte und ihn verabschiedete. Dann kam er in die Küche und setzte sich mit einem schweren Seufzen an den Tisch. Es war ihm anzusehen, dass ihn Sorgen plagten.
»Papa, sag mir bitte, wenn ich dir helfen kann.«
Er hob die Hand. »Es ist alles in bester Ordnung, Lorraine. Ich bin lediglich etwas erschöpft.«
»Erschöpft von was ?«
Er lachte heiser. »Dein Vater hat eine Entscheidung getroffen, die unser Leben verändern wird.«
»Hat es etwas mit diesem Mann zu tun, den du mitgebracht hast?«
Er nickte und deutete auf den Stuhl neben sich.
»Bitte sehr«, sagte sie und reichte ihm einen dampfenden Pott, wischte sich die Hände an der Schürze ab und setzte sich mit vor Neugier funkelnden Augen an den Tisch.
»Ich danke dir, mein Liebling.« Beaumont atmete das Aroma ein, schloss genießerisch die Augen und nippte an der Tasse.
»Wer ist der Herr, der Giffards Geduld strapazierte? Ist er ein Gast? Ein Patient? Oder hat er einfach nur zu viel getrunken und schläft seinen Rausch aus?«
Beaumont stellte die Tasse ab. »Nein, er ist kein Trunkenbold. Mach dir deswegen keine Sorgen.«
»Aber wer ist er dann?«
»Genau genommen ist er sowohl Gast als auch Patient.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Unser Gast hat ein sehr trauriges Schicksal zu beklagen. Er lebte lange ohne menschlichen Einfluss in den Wäldern. Gott allein weiß, was er alles durchmachte, bevor man ihn fand.«
»In den Wäldern?«
»Es mag für unsere Ohren unglaublich klingen. Noch weniger können wir uns vorstellen, was es heißt, in der Isolation aufzuwachsen, da der Umgang mit anderen Menschen zu unserem täglichen Leben gehört.«
Beaumont versuchte Lorraine die Situation des Fremden zu erklären. Schon bald machte sie die Geschichte sehr betroffen und sie empfand Mitleid für die arme Kreatur, die keine Menschenseele auf der Welt hatte, die ihr als Freund zur Seite stand. Staunend hörte sie den Ausführungen ihres Vaters zu, der ihr seine Theorien in allen Einzelheiten schilderte, und entwickelte dabei immer mehr den Drang, ihn bei seinem Vorhaben zu unterstützen.
»So beschloss ich, ihn aufzunehmen. Ich konnte nicht anders handeln«, endete er und warf ihr einen fragenden Blick zu, als erwartete er ihren Segen.
Lorraine war verunsichert. Ein fremder Mann in ihrem Heim? Schon oft hatte ihr Vater Patienten über Nacht im Haus behalten, manchmal sogar über mehrere Tage und Wochen. Sie waren jedoch schwer krank gewesen und
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