Elantris
ist er der Ansicht, nahe der alten Hauptstadt zu bleiben verleihe ihm Autorität.«
»Vielleicht, Mylady«, sagte Ashe.
Es ist ja ohnehin nicht weiter wichtig, dachte sie. Anscheinend erhöhte die Nähe zu Elantris - oder den Elantriern - keineswegs die Wahrscheinlichkeit, dass man selbst von der Shaod ereilt wurde.
Sie wandte sich von dem Fenster ab und blickte zu Ashe, der über dem Sitz neben ihr schwebte. Bisher hatte sie auf den Straßen von Kae noch kein einziges Seon zu Gesicht bekommen, obwohl diese Geschöpfe - von denen es hieß, sie seien vor ewigen Zeiten durch elantrischen Zauber entstanden - in Are- Ion angeblich viel verbreiteter sein sollten als in ihrer Heimat. Wenn sie die Augen zusammenkniff, konnte sie schemenhaft das leuchtende Aon im Zentrum von Ashes Licht ausmachen.
»Wenigstens ist der Staatsvertrag sicher«, sagte Sarene nach einer Weile.
»Sofern Ihr in Arelon bleiben solltet, Mylady«, erklang Ashes tiefe Stimme. »Zumindest besagt das der Ehevertrag. Solange Ihr hier bleibt und Eurem >Ehemann die Treue haltet<, muss König Iadon sein Bündnis mit Teod erfüllen.«
»Einem toten Mann treu bleiben«, murmelte Sarene mit einem Seufzen. »Tja, das bedeutet, dass ich bleiben muss, mit oder ohne Ehemann.«
»Wenn Ihr meint, Mylady.«
»Wir brauchen diesen Vertrag, Ashe«, sagte Sarene. »Fjorden dehnt seinen Einfluss mit unglaublicher Geschwindigkeit aus. Vor fünf Jahren hätte ich noch gesagt, dass wir uns keine Sorgen zu machen brauchen, dass die Priester aus Fjorden in Arelon niemals mächtig würden. Aber jetzt ...« Sarene schüttelte den Kopf. Der Zusammenbruch der Duladenischen Republik hatte so vieles verändert.
»Wir hätten uns die letzten zehn Jahre über nicht derart auf Distanz zu Arelon halten dürfen, Ashe«, fuhr sie fort. »Wahrscheinlich befände ich mich jetzt nicht in dieser misslichen Lage, wenn wir vor zehn Jahren enge Bande mit der neuen arelischen Regierung geknüpft hätten.«
»Euer Vater hatte Angst, dass die politischen Unruhen auf Teod übergreifen könnten«, sagte Ashe. »Ganz zu schweigen von der Reod - niemand war sicher, ob das, was die Elantrier befiel, nicht auch normalen Menschen schaden könnte.«
Die Kutsche fuhr langsamer, und Sarene ließ das Thema seufzend fallen. Ihr Vater wusste, dass Fjorden eine Gefahr darstellte, und er hatte begriffen, dass man alte Bündnisse neu schmieden musste. Deshalb war sie nach Arelon gekommen. Vor ihnen schwangen die Flügel des Palasttors auf. Auch wenn sie ohne Freunde in der Fremde sein mochte, sie war nun einmal hier, und Teod war auf sie angewiesen. Sie musste Arelon auf den Krieg vorbereiten, der kommen würde: einen Krieg, der in dem Augenblick unausweichlich geworden war, als Elantris fiel.
Sarenes neuer Vater, König Iadon von Arelon, war ein dünner Mann mit einem schlauen Gesicht. Bei Sarenes Ankunft im Thronsaal nahm er gerade Rücksprache mit einigen seiner Verwaltungsbeamten, und sie stand beinahe eine Viertelstunde unbeachtet herum, bevor er ihr auch nur zunickte. Im Grunde machte ihr das Warten nichts aus - so hatte sie Gelegenheit, den Mann zu beobachten, dem sie von nun an zu gehorchen hatte -, allerdings fühlte sie sich ein wenig in ihrer Ehre gekränkt. Allein ihr Status als Prinzessin von Teod hätte ihr, wenn schon nicht einen prunkvollen, so doch zumindest einen pünktlichen Empfang gewährleisten sollen.
Während des Wartens fiel ihr eines sofort auf: Iadon sah nicht wie ein Mann aus, der den Tod seines Sohnes und Erben betrauerte. In seinen Augen war nicht das geringste Zeichen von Kummer, sein Gesicht trug keine Spur der Auszehrung und Erschöpfung, die im Allgemeinen mit dem Verlust eines geliebten Menschen einhergingen. Ja die Atmosphäre bei Hofe schien bemerkenswert frei von jeglicher spürbarer Trauer zu sein.
Ist Iadon also ein herzloser Mann?, fragte Sarene sich neugierig. Oder ist er einfach nur Herr seiner Gefühle?
In den Jahren am Hof ihres Vaters hatte Sarene gelernt, die Charaktere von Adeligen zu durchschauen. Obgleich sie nicht hören konnte, was Iadon sagte - man hatte sie angewiesen, sich im hinteren Teil des Saales aufzuhalten und abzuwarten, bis sie sich dem König nähern durfte -, vermittelten ihr seine Handlungen und Gesten eine Vorstellung von seinem Wesen. Iadon sprach bestimmt und erteilte direkte Anweisungen, wobei er gelegentlich innehielt und mit einem dünnen Finger auf den Tisch pochte. Er war ein Mann mit einer starken Persönlichkeit, entschied sie; einer, der
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