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Im Tal des Vajont

Im Tal des Vajont

Titel: Im Tal des Vajont Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mauro Corona
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PROLOG
    AM FRÜHEN NACHMITTAG des 27. November 2003 trat ein Mann mittleren Alters in mein Bildhaueratelier in Erto. In seiner Hand hielt er ein zylinderförmiges, in Zeitungspapier eingepacktes Paket. Er gab mir die Hand und stellte sich vor. Er kam aus San Michele al Tagliamento, einer Kleinstadt in Venetien, dicht an der Grenze zum unteren Friaul.
    »Ich wollte Ihnen das hier schenken«, sagte er und wickelte dabei das Bündel aus dem Zeitungspapier. Dann weiter: »Ihr Familienname ist Corona, nicht wahr?«
    »Ja«, antwortete ich, einigermaßen neugierig geworden, »aber hier heißen wir fast alle Corona.«
    »Sie sind doch der Schriftsteller?«, fragte er.
    »Ja, das stimmt, ich habe ein paar Bücher geschrieben, aber das bedeutet nicht, dass ich mich als ›Schriftsteller‹ fühle«, sagte ich. Ich mag mich selbst nicht so bezeichnen, das ist mir zu pompös, und es steht mir auch gar nicht zu.
    »Ich habe etwas, was Sie interessieren könnte«, sprach der Unbekannte und hatte nun den geheimnisvollen Gegenstand vollständig ausgepackt.
    Zum Vorschein kam ein Metallzylinder, der nichts anderes war als der alte Behälter einer Gasschutzmaske, ganz verkrustet und verrostet. Er öffnete ihn und zog eine Rolle heraus. Es war ein großes Heft, eingeschlagen in einen zerschlissenen karierten Stofflumpen und mit einer Schnur zugebunden. Er reichte es mir. Die Ecken des schwarzen Einbands waren ganz abgestoßen.
    »Ich fand es bei der Renovierung des Stallgebäudes meines Vaters unter dem Futtertrog«, sagte der Mann. »Und ich wollte es Ihnen schenken. Es enthält die Geschichte eines gewissen Severino Corona, genannt Zino, von ihm selbst geschrieben. Vielleicht ist es ja ein Verwandter von Ihnen. Ich habe natürlich nicht alles gelesen, nur ein paar Seiten am Anfang, aber von dem bisschen habe ich schon verstanden, dass er ein fahrender Händler war und von hier stammte, aus Ihrem Dorf, aus Erto.«
    Äußerst neugierig geworden, fing ich an, das Heft zu durchblättern, aber viele Seiten klebten so fest zusammen wie versteinerte Liebende. Trotz Metallhülle und Stofflumpen, in denen das Heft seit wer weiß wie vielen Jahren eingewickelt war, hatten Feuchtigkeit und Dunkelheit der Bleistiftschrift arg zugesetzt, auch das Papier war ganz brüchig geworden. Aber nachdem ich die ersten zwanzig Seiten mit der Taschenmesserspitze sorgsam voneinander gelöst hatte, ließ sich die Schrift sehr gut lesen. Hin und wieder fehlten zwar halbe Wörter an den Seitenecken; die Geschichte war aber so klar erzählt, dass man leicht den Sinn rekonstruieren konnte oder auch gleich das fehlende Wort. Es war ein dickes Heft, eng liniert und mit einem schwarzen Einband. Schon die wenigen Wörter auf der ersten Seite ließen mich erschauern: »20. Juli 1920. Draußen ist es sehr heiß, aber ich fühle nur Kälte, und ich spüre Schnee, überall Schnee.«
    Eine Schrift wie gestochen, in kleinen Blockbuchstaben. Ich konnte es kaum erwarten, meinen ungewöhnlichen Wohltäter zu verabschieden, der mir ein so kostbares Geschenk gemacht hatte. Gleich wollte ich lesen, was dieser unbekannte und inzwischen verstorbene Landsmann von mir vor fünfundachtzig Jahren geschrieben hatte. Da der Fremde keinerlei Entgelt wollte, schenkte ich ihm, zu seiner Freude, ein Holzkäuzchen, das einen Waldgeist umarmt.
    Hin und wieder schaute der Unbekannte auf die Berge hinaus und sagte, dass ihm der Ort sehr gefiele. Um seinen Besuch abzukürzen, lud ich ihn dann auf ein Glas Wein in der Bar Stella di Sabina ein. Ich wollte endlich das Heft zur Hand nehmen, und dazu musste ich ihn loswerden. Aber das ging nicht so schnell. Der Mann war ein exzellenter Trinker, und so gab ein Glas das nächste, ein Wort das nächste, und schon war es Abend. Es drängte mich, diese Seiten zu lesen, aber nach dem fünften Roten wurde der Rausch immer stärker und die Neugier immer schwächer, und so verschob ich alles auf den nächsten Tag. Wir sprachen über den Vajont. Er hatte auch das Theaterstück von Paolini und den Film von Martinelli gesehen. Gegen Mitternacht erhob sich mein Trinkkumpan dann, reichte mir die Hand und verabschiedete sich auf eine Weise, als hätte er nicht Wein, sondern frisches Wasser getrunken. Er stieg in seinen Wagen, um zurück ins untere Friaul zu fahren. Während er mir die Hand gab, betrachtete ich den Ring, den er an einem Kettchen um den Hals trug. Ein kleiner Goldring mit einem Kreuz. Als der Mann meine Neugier bemerkte, sagte er, ohne dass ich ihn

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