Elantris
als Überraschung für Prinz Raoden vor der Hochzeit gedacht gewesen. Sie hatte wenigstens ein paar Tage persönlich und unter vier Augen mit ihm verbringen wollen. Doch mit ihrer Geheimniskrämerei hatte sie sich keinen Gefallen getan.
»Sag mal, Ashe: Wie viel Zeit lassen die Leute in Arelon üblicherweise zwischen dem Tod eines Menschen und dessen Beerdigung verstreichen?«
»Ich bin mir nicht sicher, Mylady«, gab Ashe zu. »Ich habe Arelon vor langer Zeit verlassen und hier nur so kurz gelebt, dass ich mich nicht an viele Einzelheiten erinnern kann. Allerdings habe ich in Erfahrung bringen können, dass die arelischen Bräuche meist denjenigen Eurer Heimat ähneln.«
Sarene nickte und winkte dann den Bediensteten König Iadons herbei.
»Ja, Mylady?«, fragte Ketol in trägem Tonfall.
»Wird für den Prinzen eine Totenwache abgehalten?«, erkundigte sich Sarene.
»Ja, Mylady«, erwiderte der Bedienstete. »Vor der Korathikapelle. Die Bestattung ist für heute Abend angesetzt.«
»Ich möchte mir den Sarg ansehen.«
Ketol zögerte. »Ähm ... Seine Majestät hat darum gebeten, dass Ihr auf der Stelle zu ihm gebracht werdet...«
»Dann werde ich mich nur kurz in dem Trauerzelt aufhalten«, sagte Sarene und ging auf ihre Kutsche zu.
Sarene ließ einen kritischen Blick durch das volle Trauerzelt schweifen, während sie darauf wartete, dass Ketol und ein paar der Packleute ihr einen Weg zu dem Sarg bahnten. Sie musste zugeben, dass alles einwandfrei wirkte: die Blumen, die Opfergaben, die betenden Korathipriester. Merkwürdig war im Grunde nur, wie überfüllt das Zelt war.
»Es sind zweifellos viele Leute hier«, meinte sie zu Ashe.
»Der Prinz war sehr beliebt, Mylady«, antwortete das Seon, das neben ihr schwebte. »Laut unseren Berichten war er die beliebteste Figur des öffentlichen Lebens im ganzen Land.«
Sarene nickte und ging durch den Korridor, den Ketol ihr frei gemacht hatte. Prinz Raodens Sarg stand genau in der Mitte des Zeltes und wurde von einem Kreis Soldaten bewacht, der die Menschenmenge auf Abstand hielt. Auf ihrem Weg zum Sarg erblickte sie echte Trauer auf den Gesichtern der Anwesenden.
Es ist also wahr, dachte sie. Die Menschen haben ihn geliebt.
Die Soldaten machten ihr Platz, und sie trat an den Sarg. Ganz nach korathischer Tradition war er mit geschnitzten Äonen verziert; hauptsächlich Symbolen der Hoffnung und des Friedens. Der hölzerne Sarg war vollständig von einem Kreis aus üppigen Speisen umgeben, einer Opfergabe für den Verstorbenen.
»Kann ich ihn sehen?«, fragte sie und wandte sich einem der Korathipriester zu, einem kleinen, liebenswürdig wirkenden Mann.
»Es tut mir leid, mein Kind«, sagte der Priester. »Aber die Krankheit hat den Prinzen entstellt. Der König hat darum gebeten, dem Prinzen im Tode seine Würde zu belassen.«
Sarene nickte und drehte sich wieder zu dem Sarg um. Sie war sich nicht sicher, was sie zu fühlen erwartet hatte, wenn sie vor dem Toten stand, der ihr zum Ehemann bestimmt gewesen war. Sie war eigenartig ... wütend.
Für den Moment wies sie dieses Gefühl von sich. Stattdessen drehte sie sich um und ließ den Blick durch das Zelt schweifen. Alles wirkte beinahe zu förmlich. Obgleich die Besucher ganz offensichtlich traurig waren, wirkten das Zelt, die Opfergaben und die Dekoration steril.
Ein Mann in Raodens Alter und von seiner angeblichen Vitalität, dachte sie. Dahingerafft vom Zitterhusten. Möglich wäre es - aber es mutet alles andere als wahrscheinlich an.
»My- ... Mylady?«, fragte Ashe leise. »Stimmt etwas nicht?«
Sarene gab dem Seon einen Wink und ging zu ihrer Kutsche zurück. »Ich weiß nicht«, sagte sie leise. »Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu, Ashe.«
»Ihr seid von Natur aus misstrauisch, Mylady«, stellte Ashe lest.
»Warum hält Iadon keine Totenwache für seinen Sohn? Ketal hat gesagt, er halte Hof - als mache ihm der Tod seines eigenen Sohnes nicht das Geringste aus.« Sarene schüttelte den Kopf. »Kurz vor meiner Abreise aus Teod habe ich mit Raoden gesprochen, und er wirkte wohlauf. Etwas stimmt nicht, Ashe, und ich möchte wissen, was.«
»Oh je ...«, sagte Ashe. »Wisst Ihr, Mylady, Euer Vater hat mich doch tatsächlich gebeten, Euch möglichst von jeglichem Ärger fernzuhalten.«
Sarene lächelte. »Also das ist ja nun wirklich mal eine unmögliche Aufgabe. Komm schon, wir müssen los und meinen neuen Vater treffen.«
Sarene lehnte am Fenster der Kutsche und betrachtete die Stadt, die auf der Fahrt
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