Elantris
zum Palast an ihr vorüberzog. Im Moment saß sie schweigend da. Ein einziger Gedanke verdrängte alles andere aus ihrem Geist.
Was mache ich hier?
Ihre Worte Ashe gegenüber hatten selbstbewusst geklungen, doch sie war schon immer gut darin gewesen, ihre Sorgen zu verbergen. Sicher, sie war neugierig, was den Tod des Prinzen betraf, aber Sarene kannte sich selbst sehr gut. Ein großer Teil dieser Neugier war nichts als der Versuch, sich von ihren Minderwertigkeitsgefühlen und ihrem linkischen Wesen abzulenken - bloß nicht daran denken müssen, dass sie eine schlaksige, brüske Frau war, die die Blüte ihrer Jugend schon beinahe hinter sich hatte. Sie war fünfundzwanzig Jahre alt; sie hätte bereits vor Jahren heiraten sollen. Raoden war ihre letzte Chance gewesen.
Wie kannst du es wagen, mir wegzusterben, Prinz von Arelon!, dachte Sarene aufgebracht. Allerdings entging ihr die Ironie der ganzen Sache nicht. Es passte zu gut, dass ein Mann - zumal einer, von dem sie geglaubt hatte, dass sie ihn tatsächlich mögen könnte - starb, bevor sie ihm auch nur begegnet war. Nun war sie allein in einem fremden Land, politisch an einen König gebunden, dem sie nicht vertraute. Es war ein erschreckendes Gefühl von Einsamkeit.
Du bist früher auch schon einsam gewesen, Sarene, ermahnte sie sich selbst. Du wirst damit fertig werden. Such dir einfach etwas, um auf andere Gedanken zu kommen. Du hast einen ganzen neuen Hof, den du erkunden kannst. Genieße es!
Mit einem Seufzen richtete Sarene ihre Aufmerksamkeit erneut auf die Stadt. Trotz der beträchtlichen Erfahrung, die sie im diplomatischen Korps ihres Vaters gesammelt hatte, war sie noch nie zuvor in Arelon gewesen. Seit dem Niedergang von Elantris war Arelon von den meisten anderen Königreichen inoffiziell unter Quarantäne gestellt worden. Niemand wusste, warum die mystische Stadt mit einem Fluch belegt war, und alle hatten Angst, die elantrische Krankheit könnte um sich greifen.
Der üppige Luxus, den Sarene in Kae erblickte, überraschte sie entsprechend. Die Hauptverkehrsstraßen der Stadt waren breit und in gutem Zustand. Die Leute auf der Straße trugen vornehme Kleidung, und sie konnte keinen einzigen Bettler entdecken. Auf der einen Seite schritt eine Gruppe Korathipriester in blauen Gewändern durch die Menge und führte einen eigenartigen, in ein weißes Gewand gehüllten Menschen mit sich. Sie sah der Prozession zu und fragte sich, was sie zu bedeuten haben mochte. Dann bog die Gruppe um eine Ecke und war verschwunden.
Soviel Sarene erkennen konnte, wies Kae keinerlei Anzeichen der wirtschaftlichen Not auf, unter der Arelon angeblich litt. Die Kutsche fuhr an Dutzenden umzäunter Villen vorbei, von denen jede in einem anderen Architekturstil erbaut war. Manche waren weitläufig, mit gewaltigen Seitenflügeln und Spitzdächern, ganz nach duladenischer Bauweise. Andere wirkten mehr wie Burgen, deren Steinmauern aussahen, als habe man sie direkt aus den militaristischen ländlichen Gegenden Fjordens hertransportiert. Doch die Villen hatten alle eines gemeinsam: Reichtum. Das Volk dieses Landes mochte verhungern, aber Kae - der Sitz von Arelons Aristokratie - schien davon nichts zu ahnen.
Ein beunruhigender Schatten hing natürlich dennoch über der Stadt. In der Ferne erhoben sich die gewaltigen Mauern von Elantris, und Sarene erzitterte, als sie die öden, imposanten Steine erblickte. Fast ihr ganzes Erwachsenenleben lang hatte sie Geschichten über Elantris vernommen, Erzählungen von den Zaubern, die es einst hervorgebracht hatte, und den Ungeheuern, die nun in seinen dunklen Straßen hausten. Egal wie protzig die Häuser, egal wie reich die Straßen von Kae sein mochten, dieses eine Mahnmal war ein Zeugnis, dass in Are- Ion nicht alles im Lot war.
»Ich frage mich, warum sie überhaupt hier wohnen«, sagte Sarene.
»Mylady?«, erkundigte sich Ashe.
»Warum hat König Iadon seinen Palast in Kae errichtet? Warum eine Stadt aussuchen, die so nahe bei Elantris liegt?«
»Ich vermute, dass die Gründe vor allem wirtschaftlicher Natur sind, Mylady«, sagte Ashe. »Es gibt nur ein paar lebensfähige Hafenstädte an der Nordküste Arelons, und das hier ist die schönste.«
Sarene nickte. Die Bucht, die dadurch entstanden war, dass der Fluss Aredel mit dem Ozean verschmolz, bildete einen beneidenswerten Hafen. Aber dennoch ...
»Womöglich sind die Gründe politischer Natur«, überlegte Sarene. »Iadon ist in stürmischen Zeiten an die Macht gekommen. Vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher