Elbenzorn
geplant?«
»Eigentlich nicht«, erwiderte Iviidis zögernd. »Ich wollte erst zum Sommerpalast, wenn auch hier im Hain wieder hoher Sommer ist.«
»Würdest du jetzt schon gehen? Und meine Augen und meine Ohren sein?«
»Was soll ich tun?«
Rutaaura betrachtete ihre Schwester mit leisem Erstaunen. Sie wusste, dass Iviidis nicht nur deshalb an den provinziellen Rand des Goldenen Hains gezogen war, weil es ihr unangenehm war, immer wieder vor ihren alten Freunden und Bekannten ihre Verbindung mit einem einfachen Hain-Elben rechtfertigen zu müssen. Sie fand einfach kein Vergnügen an der uralten Etikette, die das Leben im Sommerpalast regelte. Die Goldenen liebten den kunstvollen Tanz, das Spiel mit den alten Regeln, die Sprache, Kleidung, Verhalten und Gesten bis ins kleinste Detail und in die zarteste Nuance hinein festlegten. Ein Lebensfaden, der tausend und mehr Umläufe lang nicht riss, wenn er nicht durch einen Unfall zerschnitten wurde, ließ seinem Besitzer alle Zeit der Welt für ausgeklügelte und zeitraubende Zeremonien, selbst wenn es um so simple und alltägliche Verrichtungen ging wie das Schälen eines Apfels.
Iviidis aber war so ungeduldig wie – Rutaaura lächelte unwillkürlich, als sie einen Vergleich wählte, der ihrer Schwester gar nicht gefallen hätte – ungeduldig wie ein Mensch. Sie hatte die erste Gelegenheit genutzt, sich den allzu komplizierten Schritten des höfischen Menuetts zu entziehen und ihren eigenen schlichten Reigen mit Olkodan und Indrekin zu eröffnen.
»Was kann ich also für dich tun, Ruta?«, riss die Stimme ihrer Schwester sie aus ihren müßig abschweifenden Gedanken. Rutaaura schüttelte unwillig den Kopf. Sie war müde, und das verleitete sie zum Trödeln.
»Du warst bis zu deiner Heirat Glautas’ Mitarbeiterin«, sagte sie. »Hast du noch immer Zugang zu den Tenttai-Archiven?«
Iviidis zögerte. Die Tenttai-Archive waren der Öffentlichkeit nicht zugänglich; nur Bewahrer, die einen gewissen Rang erreicht hatten, durften dort ohne Erlaubnis einund ausgehen. Iviidis hatte als engste Vetraute und Mitarbeiterin ihres Vaters zu diesem erlesenen Kreis gehört – aber sie war nicht mehr als Bewahrerin tätig und hatte die Archive seit ihrer Heirat nicht mehr betreten. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Wahrscheinlich würde einer der Archivare bei meinem Vater nachfragen, ob meine Berechtigung noch besteht … Ich müsste mir vorher seine Einwilligung holen.«
»Kannst du das tun?«
»Mit welcher Begründung?« Iviidis runzelte die Stirn. »Seit wann sind denn für dich die Archive von Belang?«
Rutaaura zog sich einen Hocker heran und setzte sich dicht vor Iviidis. »Ich weiß von Aufzeichnungen, die meine Suche betreffen«, flüsterte sie. »Irgendwo in den Archiven werden Dokumente aus der Zeit der Verlorenen Könige verwahrt, die sich mit den Wanderern beschäftigen. Wahrscheinlich stammen sie aus der Feder von Andronee Mondauge – und ich glaube, dass unsere Mutter diese Aufzeichnungen kannte. Ich muss wissen, was sie enthalten!«
Iviidis schnalzte mit der Zunge. »Alles aus dieser Zeit, was auch nur entfernt mit den Dunklen zu tun hat, liegt unter Verschluss. Da komme ich nicht heran – nicht ohne Weiteres.« Sie klopfte nachdenklich mit ihrem Zeigefinger gegen das zierliche Kinn, und Rutaaura sah befriedigt das Funkeln in ihren Augen. Die Neugierde ihrer Schwester war geweckt. Sie kannte Iviidis gut genug, um zu wissen, dass sie jetzt nicht mehr lockerlassen würde – darin glichen die beiden Schwestern sich nur zu sehr.
Rutaaura stand auf und sah Iviidis prüfend ins Gesicht. »Noch einen Gefallen kannst du mir tun, wenn du einmal dort bist«, sagte sie. »Halte die Ohren auf, hör zu, was geklatscht wird. Wenn dir etwas auffällt, das anders ist als sonst, etwas Ungewöhnliches, Neues …«, sie unterbrach sich und wischte ungeduldig mit der Hand durch die Luft. »Ich bin nicht sicher. Rede mit Glautas, er weiß schließlich über alles Bescheid, was dort vor sich geht. Lass ihn erzählen, welche Politik der Hof zurzeit betreibt. Was die Veränderungen im Rat für die Zukunft bedeuten.«
Iviidis schüttelte den Kopf. »Warum willst du das alles wissen?«
Rutaaura schloss für einen Moment die Augen. Sie stand unter dem Sternenhimmel und sog die süß nach Blüten und reifendem Obst duftende Luft durch die Nase. »Ich bin einfach nur neugierig«, sagte sie und öffnete ihre Augen, die im weichen Mondlicht wie helle Kristalle aus der
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