Elena - Ein Leben für Pferde
schmalen Feldweg hinab zum Amselhof entlangritt. Elena wusste, dass die Pferde noch eine Weile dort stehen würden, sich dann aber wieder dem Gras zuwenden und allmählich auf der großen Wiese verteilen würden. Unten, auf dem Hof, waren die ersten Lichter angegangen.
Elena lächelte bei dem vertrauten Anblick des Amselhofes. Wie schön es doch war, hier leben zu können!
1. Kapitel
Wie immer, wenn im Leben etwas wirklich Schlimmes passiert, geschieht es meistens ohne jede Vorwarnung und manchmal merkt man es erst gar nicht. An diesem Freitag im Oktober hatte ich auf jeden Fall keine Ahnung, welche Katastrophe der Tag mit sich bringen sollte, ganz im Gegenteil. Zuerst fing alles sogar richtig gut an, denn in der zweiten Stunde bekamen wir die Deutscharbeiten zurück.
»Eine sehr gute Leistung, Elena! Sprachlich und inhaltlich hervorragend und wirklich spannend«, sagte Frau Wernke, unsere Klassenlehrerin, und mir klappte fast der Mund auf, als ich das Heft aufschlug und eine fette rote Eins unter meinem Aufsatz sah. Deutsch war neben Erdkunde und Bio mein Lieblingsfach, aber eine Eins hatte ich noch nie geschrieben.
»Was hast ’n du?« Ariane war sonst nicht besonders scharf darauf, mit mir zu reden, doch jetzt konnte sie ihre Neugier nicht länger bezähmen und drehte sich zu mir um.
»Eine Eins«, erwiderte ich so bescheiden wie möglich.
»Glückwunsch«, brachte sie mühsam hervor und ihre babyblauen Augen funkelten feindselig. Sie warf ihr langes blondes Haar mit einer lässigen Bewegung über ihre Schulter und wandte mir wieder den Rücken zu.
Ariane konnte es nicht leiden, wenn jemand besser war als sie, und schon gar nicht ich. Früher, in der Grundschule in Steinau, waren wir mal Freundinnen gewesen, aber das war lange her.
Außer mir hatte niemand eine Eins gekriegt, Ariane also auch nicht, und das wurmte sie. Mir war klar, dass sie nur auf eine Gelegenheit lauern würde, mir eins auszuwischen, und damit musste sie nicht lange warten.
In der vierten Stunde rief unser Mathelehrer Herr Graubner ausgerechnet mich an die Tafel, obwohl ich betont unbeteiligt in mein Mathebuch geguckt hatte. Ich hasste es, vor der ganzen Klasse zu stehen und von allen angeglotzt zu werden.
»Dividiere das Produkt von 11 und 7 durch die Differenz von 12 und 5 und subtrahiere diesen Quotienten von 15.«
Äh – was? Ich stand mit der Kreide in der Hand da, starrte dämlich auf die leere Tafel und merkte, wie mir das Blut ins Gesicht stieg. Hinter mir kicherte jemand und das machte es auch nicht besser. Mir schoss alles Mögliche durch den Kopf, nur nicht die Lösung für die Aufgabe.
»Schscht!«, zischte Herr Graubner in Richtung Klasse. »Was ist, Elena? Weißt du es nicht?«
»Nee«, gab ich zu.
Er zog Unheil verkündend die Augenbrauen hoch und streckte stumm die Hand nach der Kreide aus.
»Wer von euch weiß es?«, fragte er, ohne mich weiter zu beachten.
Keiner rührte sich, nur Ariane grinste breit und feixte, als ich mit feuerrotem Kopf an ihr vorbei zu meinem Platz ging.
»Eins in Deutsch, sechs in Mathe«, flüsterte sie vernehmlich und ihre beiden treuesten Anhängerinnen Tessa und Ricky kicherten gehorsam.
»Ariane?« Herr Graubner rief sie auf, genau wie sie es beabsichtigt hatte.
»Wer? Ich?« Sie riss ungläubig die Augen auf und deutete mit dem Finger auf sich. Alles nur Schau. In Mathe war Ariane unbestritten die Klassenbeste, sogar besser als alle Jungs.
»Ja, du, wenn’s recht ist.« Unser Mathelehrer hielt ihr grinsend die Kreide hin und glaubte wohl, er hätte sie endlich einmal drangekriegt.
Ariane tänzelte also nach vorn, warf ihre blonde Mähne zurück und löste die Aufgabe in weniger als zehn Sekunden.
»Sehr gut«, sagte Herr Graubner mit leichter Enttäuschung, weil er jetzt wohl begriffen hatte, dass er reingefallen war.
»War doch total leicht.« Ariane grinste triumphierend in meine Richtung. »Kinderkram.«
Nach der sechsten Stunde wartete ich ungeduldig auf meine beste Freundin Melike, die in die neunte Klasse ging. Der Regen prasselte auf das Dach der Pausenhalle und sammelte sich in großen Pfützen auf dem Schulhof. Pünktlich mit den Herbstferien hatte sich der Sommer endgültig verabschiedet – seit einer Woche regnete es fast ohne Unterbrechung.
Der Bus fuhr um fünf nach eins und wir hatten nur knappe zehn Minuten, um den Busbahnhof zu erreichen. Hunderte von Schülern strömten aus dem Schulgebäude und liefen an mir vorbei. Endlich tauchte Melike auf,
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