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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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Minu- ten übrig, und ihm fiel nichts anderes mehr ein, als ein- fach dazustehen, die Hände zunächst in den Taschen, dann in die Hüften gestemmt, schließlich mit männlich über der Brust verschränkten Armen.
     Miss Price stand im Eingang und sah sich das alles mit an; die ganze Pause über fragte sie sich, ob sie in den Hof gehen und einschreiten sollte. Dann entschied sie sich doch lieber dagegen.
     Auch tags darauf gelang es ihr, diesen Drang während der Pause zu unterdrücken, und so an jedem weiteren Tag dieser Woche, obwohl es ihr von Mal zu Mal schwe- rer fiel. Eines jedoch ließ sich nicht unterdrücken – daß ihre wachsende Befangenheit im Unterricht sichtbar wur- de. Sämtliche Fehler, die Vincent Sabella bei den Schul- arbeiten beging, sah sie ihm öffentlich nach, selbst sol- che, die mit dem Umstand, daß er noch neu war, gar nichts zu tun hatten, wohingegen sie seine Leistungen eigens hervorhob. Daß sie den jungen unbedingt fördern wollte, war allzu offensichtlich, vor allem dann, wenn sie es auf besonders geschickte Weise versuchte; als sie zum Bei- spiel einmal eine Rechenaufgabe erläuterte, sagte sie: »Also angenommen, Warren Berg und Vincent Sabella gehen in einen Laden, und jeder hat fünfzehn Cent; eine Zucker- stange kostet zehn Cent. Wie viele Zuckerstangen hat dann jeder?« Am Ende der Woche war der Junge auf dem besten Weg, zur schlimmsten Sorte von Lieblingsschü- lern zu werden – zum Opfer eines mitleidigen Lehrers.
     Am Freitag kam Miss Price zu dem Schluß, es wäre wohl am besten, mit ihm einmal unter vier Augen zu spre- chen und zu versuchen, ihn aus der Reserve zu locken.
     Sie könnte etwas zu den Bildern sagen, die er im Kunst- unterricht gemalt hatte, das wäre womöglich ein guter Einstieg; jedenfalls beschloß sie, die Sache in der Mittags- pause in Angriff zu nehmen.
     Das einzige Problem bestand darin, daß die Mittags- pause neben der großen Pause für Vincent Sabella der schwierigste Teil des Tages war. Er ging nämlich nicht wie die anderen Kinder für eine Stunde nach Hause, sondern brachte sein Mittagessen in einer zerknitterten Tüte mit in die Schule und verzehrte es dann im Klassenzimmer – was immer eine peinliche Situation herbeiführte. Die Kinder, die den Raum als letzte verließen, sahen ihn, die Papiertüte in der Hand, unverändert an seinem Pult sit- zen, und wenn zufällig eines wegen einer vergessenen Mütze oder eines liegengelassenen Pullis noch einmal zurückkam, überraschte es ihn, während er schon beim Essen war – vielleicht verbarg er dann ein hartgekochtes Ei vor den Blicken oder wischte sich mit der Hand ver- stohlen die Mayonnaise vom Mund. Es verbesserte die Situation keineswegs, als Miss Price nun, das Klassenzim- mer noch halb voll mit Kindern, auf ihn zutrat, sich an- mutig auf die Kante des Nachbartisches setzte und damit zu verstehen gab, daß sie sich ein Stück ihrer Mittags- pause abknapste, um bei ihm zu sein.
     »Vincent«, begann sie, »ich wollte dir schon die ganze Zeit sagen, wie gut mir deine Bilder gefallen haben. Sie sind wirklich sehr schön.«
     Er murmelte etwas vor sich hin und ließ den Blick zu der Gruppe von Kindern wandern, die soeben zur Tür hinausgingen. Miss Price sprach einfach weiter und setzte ihr Loblied auf die Bilder lächelnd fort; als sich die Tür hinter dem letzten Kind geschlossen hatte, konnte er ihr endlich seine Aufmerksamkeit schenken. Er tat das zu- nächst nur sehr zaghaft; doch je länger sie redete, um so mehr schien er sich zu entspannen, bis sie schließlich merkte, daß sie ihn tatsächlich beruhigte. Es war so ein- fach und zufriedenstellend, als streichle man eine Katze. Sie hatte das Thema Bilder mittlerweile beendet und dehnte nun ihr Lob triumphierend auf weitere Eelder aus. »Es ist nie leicht«, sagte sie, »wenn man an eine neue Schule kommt und sich auf die ... na ja, auf die neue Arbeit und die neuen Arbeitsmethoden einstellen muß, und ich glaube, bis jetzt hast du deine Sache sehr gut gemacht. Das glaube ich wirklich. Aber sag mal, meinst du denn, es wird dir bei uns gefallen?«
     Erblickte kurz zu Boden und antwortete: »Denk' schon«; dann wandte er sich ihr wieder zu.
     »Das freut mich sehr. Bitte laß dich nicht beim Essen stören, Vincent. Iß ruhig weiter, das heißt, wenn's dir nichts ausmacht, daß ich hier bei dir sitze.« Inzwischen war es allerdings mehr als klar, daß ihm dieser Umstand überhaupt nichts ausmachte; er begann ein Lyoner-Sand- wich

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