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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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auszupacken, und sie hatte das sichere Gefühl, daß er die ganze Woche über noch nie so einen gesunden Appetit gehabt hatte. Es hätte nun nicht einmal mehr eine große Rolle gespielt, wenn ein Mitschüler herein- gekommen wäre und ihm zugesehen hätte, andererseits war es wohl auch ganz gut, daß das nicht geschah.
     Miss Price machte es sich auf dem Pult ein wenig be- quemer, schlug die Beine übereinander und ließ einen der schlanken, bestrumpften Füße ein Stück aus dem Mokassin gleiten. »Natürlich«, fuhr sie fort, »dauert es immer ein bißchen, bis man sich in einer neuen Schule einigermaßen zurechtgefunden hat. Für ein neues Klas senmitglied zum Beispiel ist es, na ja, nie leicht, sich mit den übrigen Schülern anzufreunden. Ich meine damit, du mußt dir keine Sorgen machen, wenn die anderen am Anfang ein bißchen unhöflich zu dir sind. In Wirklichkeit sind sie genauso wie du darauf aus, Freundschaften zu schließen, sie sind bloß etwas schüchtern. Es braucht eben alles ein wenig Zeit und Mühe, bei dir wie bei ihnen. Nicht gar so viel, natürlich, aber doch ein wenig. Diese Erlebnisberichte zum Beispiel, die wir montags morgens haben – die eignen sich sehr gut dazu, daß man einander besser kennenlernt. Normalerweise fühlt sich niemand verpflichtet, einen Erlebnisbericht vorzutragen; so etwas tut man bloß, wenn man Lust dazu hat. Und das ist nur eine Möglichkeit, anderen die eigene Person näherzubrin- gen; es gibt noch viele, viele weitere Möglichkeiten. Vor allem mußt du immer dran denken, daß Freundschaften zu schließen zu den natürlichsten Sachen der Welt gehört und daß es bloß eine Frage der Zeit ist, bis du so viele Freunde hast, wie du willst. Zunächst einmal, Vincent, hoffe ich doch, daß du wenigstens mich als deinen Freund betrachtest und daß du dich nicht genierst, zu mir zu kommen, wenn du einen Rat oder sonst etwas brauchst. Willst du das tun?«
     Er nickte und schluckte dabei einen Bissen hinunter.
     »Gut.« Sie stand auf und strich sich den Rock über den langen Schenkeln glatt. »So, jetzt muß ich gehen, sonst verpaß ich noch mein Mittagessen. Aber ich bin froh, daß wir mal ein bißchen miteinander geredet haben, Vin- cent, und ich hoffe, es wird nicht das letzte Mal sein.«
     Es war vermutlich ein Glück, daß sie aufgestanden war, denn hätte sie noch eine Minute länger auf dem Pult gesessen, dann hätte Vincent Sabella die Arme um sie
     geschlungen und sein Gesicht im warmen Flanell ihres Schoßes vergraben, und mehr wäre nicht nötig gewesen, um die engagierteste und phantasievollste aller Lehrerin- nen aus der Fassung zu bringen.

    Als Miss Price dann am Montagmorgen zu den Erlebnis- berichten aufrief, war sie vollkommen überrascht, denn Vincent Sabellas ungewaschene Hand zählte zu denen, die als erste und am eifrigsten in die Höhe gingen. Besorgt erwog sie zunächst, jemand anders anfangen zu lassen, aber aus Angst, seine Gefühle zu verletzen, sagte sie dann doch so sachlich wie möglich: »Bitte schön, Vincent.«
     Ein gedämpftes, kaum hörbares Kichern ging durch die Klasse, als der Junge zuversichtlich nach vorne trat und sich seinem Publikum zuwandte. Er wirkte allzu zuver- sichtlich: gewisse Anzeichen – die Haltung der Schultern, das Schimmern in den Augen – ließen darauf schließen, daß er von schrecklicher Panik erfaßt war.
     »Am Samstag hab' ich mir den Film da angeguckt«, ver- kündete er.
     »Angesehen, Vincent«, korrigierte Miss Price sanft.
     »Mein' ich doch«, sagte er, »hab' ich mir den Film da angeschaut. Dr. Schleckermaul und Mr. Hide.«
     Ein wildes, vergnügtes Gelächter brach aus, und alle berichtigten im Chor: »Doktor J ekyll«
     Bei dem Lärm konnte er nicht weitersprechen. Miss Price stand wütend auf. »So ein Fehler kann jedem mal passie- ren!« sagte sie. »Ihr habt überhaupt keinen Grund, so unhöflich zu sein. Erzähl weiter, Vincent, und bitte ent- schuldige diese völlig alberne Unterbrechung.« Das Ge- lächter klang ab, aber alle schüttelten noch spöttisch den Kopf. So ein Fehler wäre natürlich keinem passiert; hier erwies sich, daß der Junge nicht nur ein hoffnungsloser Dummkopf, sondern auch ein Lügner war.
     »Mein' ich doch«, fuhr er fort, ›-Dr. Schlecker und Mr. Hide. Hab' ich 'n bißchen verwechselt. Jedenfalls, ich hab' ge- sehn, wie ihm seine Zähne und so aus'm Mund raus- gekommen sind, und das war schon toll. Und dann am Sonntag sind meine Mutter und mein Vater hergekom-

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