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Elf Arten der Einsamkeit - Short stories

Titel: Elf Arten der Einsamkeit - Short stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Yates
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Vinny.«
     Der Name ließ ihn am ganzen Leib erzittern. Er stemmte die Hände in die Jackentaschen und zwang sich dazu, weiterzugehen; dann sagte er mit bemüht ruhiger Stim- me; »Geht euch überhaupt nix an, hab' ich gesagt. Laßt mich in Ruhe.«
     Aber die beiden waren inzwischen auf gleicher Höhe mit ihm. »Mann, die hat dich doch garantiert richtig zur Sau gemacht«, fuhr Warren Berg unbeirrt fort. »Was hat sie denn gesagt? Na komm, erzähl schon, Vinny.«
     Diesmal war der Name zuviel für ihn. Sein Widerstand brach, die Knie gaben ihm nach, und sein Schritt verlang- samte sich zu einem trägen Schlendern, was nun immer- hin ein Gespräch zuließ. »Nix hat sie gesagt«, erklärte er schließlich; und nach einer theatralischen Pause fügte er hinzu: »Sie hat statt dessen 's Lineal sprechen lassen.«
     »Das Lineal? Du meinst, sie ist mit dem Lineal auf dich los?« Die beiden machten ein fassungsloses Gesicht, ent- weder vor Ungläubigkeit oder vor Bewunderung, aber je länger sie zuhörten, um so mehr sah es nach Bewunde- rung aus.
     »Auf die Fingerknöchel«, sagte Vincent mit zusammen- gepreßten Lippen. »Auf jede Hand fünfmal. Sie sagt: Mach mal 'ne Faust. Leg sie da aufs Pult. Dann nimmt se 's Lineal, und Patsch! Patsch! Patsch! Fünfmal. Wenn ihr nich' völlig bescheuert seid, könnt ihr euch sicher den- ken, wie weh das tut.«
     Miss Price, die sich, während die Eingangstür leise hin- ter ihr zuging, den Kamelhaarmantel zuknöpfte, traute kaum ihren Augen. Das konnte nicht Vincent Sabella sein – dieser durch und durch normale, durch und durch glückliche, von aufmerksam zuhörenden Freunden flan- kierte Junge da vorn auf dem Gehweg. Aber er war es, und bei diesem Anblick hätte sie vor Freude und Erleich- terung am liebsten laut aufgelacht. Was auch immer pas- siert war, alles schien gut zu werden. Ganz gleich, wie oft sie sich in guter Absicht durchs Dunkel getastet hatte, so etwas hätte sie niemals vorhersehen und schon gar nicht herbeiführen können. Aber es war so, und es bewies ein- mal mehr, daß sie das Verhalten von Kindern niemals begreifen würde.
     Sie beschleunigte den anmutigen Schritt, überholte die Jungen und lächelte ihnen im Vorbeigehen zu. »Schönen Abend noch, Jungs«, rief sie, wie um sie fröhlich zu seg- nen; als sie dann die drei verblüfften Gesichter sah, wurde ihr Lächeln noch breiter, und sie sagte verlegen: »Meine Güte, wird langsam richtig kalt, nicht wahr? Deine Wind- jacke hält sicher hübsch warm, Vincent. Du bist zu benei- den.« Die Jungen nickten ihr schüchtern zu; sie wünschte noch einmal einen schönen Abend, drehte sich weg und setzte ihren Weg zur Bushaltestelle fort.
     Tiefes Schweigen folgte ihr. Warren Berg und Bill Strin- ger sahen ihr nach, bis sie hinter der Ecke verschwunden war; dann wandten sie sich Vincent Sabella zu.
     »Von wegen Lineal!« sagte Bill Stringer. »Von wegen Lineal!« Empört gab er Vincent einen Schubs, so daß er stolpernd an Warren Berg stieß; der schubste ihn wieder zurück.
     »Mann, du lügst ja wohl immer, Sabella, wie? Du lügst ja wohl immer!«
     Durch die Schubserei aus dem Gleichgewicht gebracht, die Hände in die Jackentaschen gestemmt, versuchte Vin- cent vergeblich seine Würde zu bewahren. »Is' mir doch egal, ob ihr mir glaubt!« sagte er, und weil ihm sonst nichts mehr einfiel, wiederholte er: »Is' mir doch egal, ob ihr mir glaubt!«
     Aber er ging inzwischen allein. Warren Berg und Bill Stringer waren bereits auf der anderen Straßenseite; sie bewegten sich im Rückwärtsgang und blickten in wüten- der Verachtung zu ihm zurück. »Das mit dem Polizisten, der auf deinen Vater geschossen hat, war genauso ge- logen«, rief Bill Stringer.
     »Und das mit dem Film auch«, fügte Warren Berg hin- zu; dann krümmte er sich plötzlich mit gekünsteltem Lachen, formte die Hände zu einem Trichter und brüllte: »Hey, Doktor Schleckermaul!«
     Der Spitzname war nicht besonders gut, klang aber echt – ein Name, der wahrscheinlich die Runde machen, sich rasch durchsetzen und hängenbleiben würde. Die beiden stießen einander an und riefen im Chor:
     »Was ist, Doktor Schleckermaul?«
     »Wieso läufst du nicht gleich mit Miss Price nach Hause, Doktor Schleckermaul?«
     »Tschüs, Doktor Schleckermaul!«
     Ohne sie zu beachten, marschierte Vincent Sabella wei- ter und wartete, bis sie nicht mehr zu sehen waren. Dann machte er kehrt und lenkte den Schritt wieder in Rich- tung Schule; er

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