Elfenbann
Wohin, wusste sie nicht, auch nicht, für wie lange, oder ob sie ihn je wiedersehen würde. Nachdem nun ein knappes Jahr vorbei war, hatte sie sich beinahe an den dumpfen Schmerz in ihrer Brust gewöhnt, der sich stets meldete, wenn sie an ihn dachte. Doch jetzt war Tamani plötzlich da, so nah, dass sie ihn berühren könnte.
Laurel hob den Blick zu David, aber der sah nicht sie an. Auch er hatte Tamani entdeckt.
»Wow.« Chelsea, die hinter Laurel stand, riss sie aus ihren entrückten Gedanken. »Wer ist denn der neue süße Typ?« Ihr Freund Ryan tat beleidigt, aber sie sagte nur nüchtern: »Das werde ich wohl noch sagen dürfen, ich bin schließlich nicht blind.«
Laurel hatte es immer noch die Sprache verschlagen, während Tamani von ihr zu David und zurück sah. Tausend Fragen gingen ihr durch den Kopf. Was macht er hier? Warum ist er so angezogen? Warum hat er mir nicht gesagt, dass er kommt? Sie spürte es kaum, als David ihre plötzlich eiskalten Finger von seinem T-Shirt löste und in seine warmen Hände nahm.
»Austauschschüler, wetten?«, sagte Ryan. »Seht nur, wie Mr Robison sie herumführt.«
»Könnte sein«, sagte Chelsea unverbindlich.
Mr Robison sagte etwas zu den drei Schülern, die ihm durch den Gang folgten, und Tamani drehte den Kopf, sodass man nicht einmal mehr sein Profil sehen konnte. Als wäre ein Zauber von ihr genommen, senkte Laurel den Blick.
Doch als David ihre Hand drückte, sah sie zu ihm hoch. »Ist das der, für den ich ihn halte?«
Laurel nickte noch immer sprachlos; obwohl David und Tamani erst zwei Mal aufeinandergetroffen waren, war es jedes Mal heiß hergegangen. Als David den Blick jetzt wieder auf Tamani richtete, sah auch Laurel ihm nach.
Der andere Junge in der Gruppe wirkte verlegen, und das Mädchen erklärte ihm etwas in einer Sprache, die mit Englisch nichts zu tun hatte. Mr Robison nickte zustimmend.
Ryan verschränkte die Arme und grinste. »Da habt ihr’s. Austauschschüler, wie ich gesagt habe.«
Tamani verlagerte das Gewicht eines schwarzen Rucksacks; er sah gelangweilt aus. Menschlich , er sah menschlich aus. Das war mindestens genauso irre wie die Tatsache, dass er überhaupt hier war. Und dann sah er sie wieder an, weniger offen, mit einem von dunklen Wimpern verschatteten Blick.
Laurel bemühte sich, gleichmäßig zu atmen. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Ohne guten Grund würde er nicht von Avalon geschickt werden, und Laurel konnte sich auf der anderen Seite nicht vorstellen, dass Tamani seinen Posten ohne Erlaubnis verlassen würde.
»Alles in Ordnung?«, fragte Chelsea und stellte sich neben Laurel. »Du siehst irgendwie komisch aus.«
Ehe sie den Reflex unterdrücken konnte, sah Laurel rasch zu Tamani – ein Blinzeln, das Chelsea sofort begriff. »Das ist Tamani «, sagte sie in der Hoffnung, dass sie nicht so erfreut – oder erschrocken – aussah, wie sie sich fühlte.
Das war ihr anscheinend gelungen, denn Chelsea starrte ihn nur ungläubig an. »Der tolle Typ?«, flüsterte sie.
Laurel nickte.
»Echt jetzt?«, quiekte Chelsea, doch Laurel brachte sie mit einer scharfen Geste zum Schweigen. Heimlich schaute sie zu Tamani, um zu sehen, ob er sie dabei ertappt hatte. Das Lächeln um seine Mundwinkel verriet es ihr.
Dann gingen die Austauschschüler hinter Mr Robison weiter durch den Gang und entfernten sich von Laurel. Kurz bevor Tamani um die Ecke bog, sah er sich noch einmal um und zwinkerte ihr zu. Nicht zum ersten Mal war sie heilfroh, dass sie nicht rot werden konnte.
Laurel drehte sich zu David um. Seine Augen waren voller Fragen, als er auf sie hinunter starrte.
Laurel seufzte und hob abwehrend die Hände. »Ich habe nichts damit zu tun.«
»Es ist aber doch gut, oder?«, fragte David, nachdem sie Chelsea und Ryan endlich losgeworden waren und zusammen vor Laurels erstem Kurs standen. Laurel konnte sich nicht erinnern, wann das letzte Klingeln sie so nervös gemacht hatte. »Ich meine, du dachtest doch, du siehst ihn nie wieder, und jetzt ist er hier.«
»Es tut wirklich gut, ihn zu sehen«, sagte Laurel leise und beugte sich vor, um David die Arme um die Taille zu schlingen. »Aber ich mache mir Sorgen, was es zu bedeuten
haben könnte. Für uns. Nicht uns , meine ich«, verbesserte sie sich, um etwas gegen das ungewohnte Missbehagen zu unternehmen, das sich zwischen ihnen ausbreitete. »Aber es kann doch nur heißen, dass wir in Gefahr sind, oder nicht?«
David nickte. »Ich will nicht
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