Ender 4: Enders Kinder
mich gefunden. Ich kaufte das Buch; ich nahm es mit nach Hause.
Unaufgeschlagen lag es zwei Tage lang neben meinem Bett. Dann kam die schlaflose Nacht, als ich im Begriff war, mit dem Schreiben von Kapitel vier anzufangen, jenem Kapitel, in dem Wang-mu und Peter erstmals in Kontakt mit der japanischen Kultur auf dem Planeten Götterwind kommen (anfangs in einer Stadt, die ich Nagoya genannt hatte, weil das die japanische Stadt war, in der mein Bruder Russell in den siebziger Jahren seine Zeit als mormonischer Missionar abgeleistet hatte). Ich sah Oes Buch und nahm es zur Hand, öffnete es und begann die erste Seite zu lesen. Oe spricht zuerst von seiner langjährigen Beziehung zu Skandinavien, nachdem er als Kind Übersetzungen (oder besser: japanische Nachdichtungen) einer Reihe skandinavischer Geschichten über eine Figur namens Nils gelesen hatte.
Sofort hörte ich auf zu lesen, denn bis dahin hatte ich niemals an irgendeine Ähnlichkeit zwischen Skandinavien und Japan gedacht. Aber schon durch diese Anregung begriff ich augenblicklich, daß Japan und Skandinavien beides Randvölker waren. Sie waren im Schatten (oder vielmehr geblendet von der Strahlkraft?) einer dominanten Kultur in die zivilisierte Welt eingetreten.
Ich dachte an andere Randvölker – die Araber, die eine Ideologie gefunden hatten, die ihnen die Kraft gegeben hatte, über die kulturell übermächtige römische Welt hinwegzufegen; die Mongolen, die sich lange genug vereinigt hatten, um China zu erobern und dann von ihm verschluckt zu werden; die Türken, die vom Rande der moslemischen Welt in ihr Zentrum vorgedrungen waren, um dann auch noch die letzten Überreste der römischen Welt niederzuwerfen und trotzdem wieder dazu zurückzusinken, ein Randvolk im Schatten Europas zu werden. Selbst wenn sie eben jene Zivilisationen beherrschten, in deren Schatten sie sich einst zusammengeduckt hatten, waren alle diese Randnationen nie imstande gewesen, ihr Gefühl der Nichtzugehörigkeit, ihre Furcht, daß ihre Kultur unrettbar minderwertig und zweitrangig sei, abzuschütteln. Das Resultat war, daß sie gleichzeitig zu aggressiv waren und sich zu weit ausdehnten, wodurch sie über Grenzen hinauswuchsen, die sie hätten halten und festigen können; und so ohne Selbstvertrauen, daß sie alles aufgaben, was wirklich kraftvoll und neu an ihrer Kultur war, während sie gleichzeitig bloß das äußere Drum und Dran der Unabhängigkeit behielten. Die Manchu-Herrscher Chinas beispielsweise taten so, als hielten sie sich von dem Volk fern, das sie regierten, entschlossen, nicht vom allesverschlingenden Rachen der chinesischen Kultur verschluckt zu werden, aber das Resultat war nicht eine Dominanz der Manchus, sondern ihre unvermeidliche Marginalisierung.
Wirkliche Mittelpunktnationen hat es in der Geschichte nur wenige gegeben. Ägypten war und blieb eine Mittelpunktnation, bis es von Alexander erobert wurde; selbst dann behielt es ein gewisses Maß an Mittelpunktcharakter, bis die machtvolle Idee des Islam über es hinwegfegte. Mesopotamien hätte eine Zeitlang eine sein können, aber im Gegensatz zu Ägypten konnten sich die mesopotamischen Städte nicht hinreichend zusammenschließen, um ihr Hinterland zu kontrollieren. Das Resultat war, daß sie wieder und wieder von ihren Randnationen überrannt und beherrscht wurden. Der Mittelpunktcharakter Mesopotamiens verlieh ihm trotzdem noch die Macht, seine Eroberer während vieler Jahre in kultureller Hinsicht zu verschlucken, bis es schließlich zu einer Randprovinz degenerierte, die zwischen Rom und Parthia hin- und hergereicht wurde. Wie im Falle Ägyptens wurde seine Mittelpunktrolle schließlich vom Islam zerschmettert.
China kam erst später zu seinem Status als Mittelpunktnation, war aber erstaunlich erfolgreich. Es war ein langer und blutiger Weg zur nationalen Einheit, aber nachdem sie erst einmal erreicht war, blieb diese Einheit bestehen, wenn auch nicht politisch, so doch kulturell. Wie die Herrscher Ägyptens griffen die Herrscher Chinas danach, das Hinterland zu kontrollieren, aber, wieder wie im Falle Ägyptens, versuchten sie es nur selten und schafften es nie, eine längerfristige Herrschaft über wirklich fremde Nationen zu errichten.
Von dieser und anderen Ideen erfüllt, die daraus erwuchsen, malte ich mir eine Unterhaltung zwischen Wang-mu und Peter aus, in welcher Wang-mu ihm ihre Vorstellung von Mittelpunkt- und Randnationen darlegte. Ich ging zu meinem Computer und machte mir Notizen
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