Ender 4: Enders Kinder
Und trotz ihrer Furcht hatte sie ja gesagt.
Hatte ja gesagt und saß jetzt in einem Drehsessel und beobachtete ihn dabei, wie er sich ungehobelt benahm, sich wie ein Tiger vor ihr rekelte. War das das Tier seines Herzens, der Tiger? Wang-mu hatte den Hegemon gelesen. Sie konnte glauben, daß in jenem großen und schrecklichen Mann ein Tiger gelauert hatte. Aber in diesem hier? Diesem Jungen? Älter als Wang-mu zwar, aber sie war nicht zu jung dazu, Unreife zu erkennen, wenn sie sie sah. Und er wollte den Lauf der Geschichte verändern! Die Korruption im Kongreß ausmisten. Die Lusitania-Flotte aufhalten. Alle Kolonialplaneten zu gleichberechtigten Mitgliedern der Hundert Welten machen. Dieser Junge, der sich rekelte wie eine Dschungelkatze?
»Ich finde nicht deinen Beifall«, sagte er. Er klang gelangweilt und belustigt – beides zugleich. Aber andererseits war sie vielleicht auch ganz einfach nicht geübt darin, die Gestik und Mimik eines solchen Menschen zu erfassen. Gewiß war es schwierig, die Grimassen eines solchen rundäugigen Menschen zu deuten. Sowohl sein Gesicht als auch seine Stimme enthielten verborgene Sprachen, die sie nicht verstehen konnte.
»Du mußt es begreifen«, sagte er. »Ich bin nicht ich selbst.«
Wang-mu sprach die gemeinschaftliche Sprache gut genug, um wenigstens diesen idiomatischen Ausdruck zu verstehen. »Sie fühlen sich heute nicht recht wohl?« Aber schon als sie es sagte, wußte sie, daß er die Redewendung keineswegs idiomatisch gemeint hatte.
»Ich bin nicht ich selbst«, sagte er noch einmal. »Ich bin nicht wirklich Peter Wiggin.«
»Das will ich hoffen«, sagte Wang-mu. »Ich habe in der Schule über seine Beerdigung gelesen.«
»Ich sehe aber aus wie er, oder nicht?« Er rief in der Luft über seinem Computerterminal ein Hologramm auf. Das Hologramm drehte sich, bis es Wang-mu ansah; Peter richtete sich auf und nahm ihr gegenüber die gleiche Pose ein.
»Es besteht in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit«, sagte sie.
»Natürlich bin ich jünger«, sagte Peter. »Weil Ender mich nicht mehr wiedergesehen hat, nachdem er die Erde verließ, als er – wieviel, fünf Jahre alt war? Ein lächerlicher kleiner Zwerg jedenfalls. Ich war damals noch ein Kind. Das war es, woran er sich erinnerte, als er mich aus der Luft heraufbeschwor.«
»Nicht aus der Luft«, sagte sie. »Aus dem Nichts.«
»Auch nicht aus dem Nichts«, sagte er. »Aber heraufbeschworen hat er mich jedenfalls.« Er lächelte böse. »Ich rufe Geister aus der wüsten Tiefe.«
Für ihn bedeuteten diese Worte etwas, aber für sie nicht. Auf der Welt Weg hatte sie eine Dienerin werden sollen, und deshalb war ihr nur sehr wenig Bildung zuteil geworden. Später, im Hause Han Fei-tzus, waren ihre Begabungen erkannt worden. Zuerst von ihrer früheren Herrin Han Qing-jao und später vom Meister selbst. Von beiden hatte sie wahllos ein paar Brocken an Bildung aufgeschnappt. Das wenige, das sie an Unterweisungen erhalten hatte, war meist technischer Natur gewesen, und die Literatur, die sie kennengelernt hatte, stammte aus dem Mittleren Königreich oder von Weg selbst. Sie hätte endlos aus der großen Dichterin Li Qing-jao zitieren können, nach der ihre einstige Herrin genannt worden war. Aber von dem Dichter, den er zitierte, wußte sie nichts.
»Ich rufe Geister aus der wüsten Tiefe«, sagte er noch einmal. Und dann, indem er seine Stimme und sein Verhalten ein wenig änderte, antwortete er sich selbst: »Ei ja, das kann ich auch, das kann ein jeder; doch kommen sie, wenn Ihr nach ihnen ruft?«
»Shakespeare?« riet sie.
Er grinste sie an. Sie fühlte sich an die Art und Weise erinnert, in der eine Katze das Geschöpf angrinst, mit dem sie gerade spielt. »Das ist immer die naheliegendste Vermutung, wenn ein Europäer etwas zitiert«, sagte er.
»Das Zitat ist spaßig«, sagte sie. »Ein Mann prahlt damit, daß er die Toten herbeizitieren könne. Aber der andere Mann sagt, daß der Trick nicht darin besteht zu rufen, sondern vielmehr, sie dazu zu bringen, auch wirklich zu kommen.«
Er lachte. »Was für einen bemerkenswerten Sinn für Humor du hast.«
»Dieses Zitat bedeutet Ihnen etwas, weil Ender Sie von den Toten auf erweckt hat.«
Er wirkte verblüfft. »Woher weißt du das?«
Sie spürte einen Schauer der Angst. War es denn wirklich möglich? »Ich wußte es nicht, ich habe nur einen Scherz gemacht.«
»Nun, es trifft auch nicht zu. Nicht im Wortsinne jedenfalls. Er hat die Toten nicht auferweckt.
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