Ender 4: Enders Kinder
Wahrheit zu finden, sondern ihn zu erschaffen . Eine Kerze der Wahrheit zu entzünden, wo keine Wahrheit zu finden war. Das war Enders Geschenk an uns: uns von der Illusion zu befreien, daß eine einzelne Erklärung jemals für alle Zeiten, für alle Zuhörer die letzte Antwort enthalten wird. Immer, immer gibt es noch mehr zu lernen.«
Dann fuhr Plikt fort, indem sie Ereignisse und Erinnerungen, Anekdoten und Kernsprüche aufzählte; die versammelten Menschen lachten und weinten und lachten erneut, und verstummten viele Male, um diese Geschichten mit ihren eigenen Leben zu verbinden. Wie ähnlich ich Ender bin! dachten sie manchmal, und dann wiederum: Gottseidank, daß mein Leben nicht so ist!
Valentine indes kannte Geschichten, die hier nicht erzählt werden würden, weil Plikt sie nicht kannte oder sie zumindest nicht durch die Augen der Erinnerung sehen konnte. Es waren keine wichtigen Geschichten. Sie enthüllten keine innere Wahrheit. Sie waren die Überbleibsel gemeinsam miteinander verbrachter Jahre. Unterhaltungen, Streitigkeiten, lustige und zärtliche Momente auf Dutzenden von Welten oder dazwischen auf den Sternenschiffen. Und an der Wurzel von all dem die Erinnerungen an die Kindheit. Das Baby in den Armen von Valentines Mutter. Vater, der ihn in die Luft warf. Seine ersten Worte, sein Geplapper. Nein, mit so etwas wie »Ga-ga« gab Klein-Ender sich nicht zufrieden! Wenn er sprach, dann brauchte er mehr Silben: Diddel-diddel. Wagada wagada. Warum erinnere ich mich ausgerechnet jetzt an sein kindliches Plappern?
Das Baby mit dem niedlichen Gesicht, begierig aufs Leben. Babytränen angesichts des Schmerzes hinzufallen. Lachen über die einfachsten Dinge – Lachen wegen eines Liedes, weil er ein geliebtes Gesicht gesehen hatte, weil das Leben damals für ihn unschuldig und gut gewesen war und nichts ihm Leid zugefügt hatte. Liebe und Hoffnung umgaben ihn. Die Hände, die ihn berührten, waren stark und zärtlich; er konnte ihnen allen vertrauen. Ach, Ender, dachte Valentine. Wie sehr ich wünschte, du hättest auch weiterhin ein solches Leben der Freude führen können! Aber das kann niemand. Die Sprache stellt sich ein, und mit ihr Lügen und Drohungen, Grausamkeit und Enttäuschung. Du gehst, und diese Schritte führen dich hinaus aus dem Schutz deines Zuhauses. Um die Freude der Kindheit zu bewahren, müßtest du als Kind sterben oder als eines leben, niemals zum Mann werden, niemals erwachsen werden. Deshalb kann ich um das verlorene Kind trauern und dennoch den guten Menschen nicht bedauern, der von Schmerz ergriffen und von Schuld zerrissen, zugleich aber dennoch freundlich zu mir und vielen anderen war und den ich liebte und den ich auch beinahe kannte. Beinahe, beinahe kannte.
Valentine ließ ihre Tränen der Erinnerung fließen, während Plikts Worte über sie hinwegspülten, sie hin und wieder berührten und zugleich doch nicht berührten, weil sie viel mehr als irgend jemand hier über Ender wußte und mehr verloren hatte, als sie ihn verlor. Mehr sogar als Novinha, die fast ganz vorne saß, ihre Kinder um sich herum versammelt. Valentine beobachtete, wie Miro den Arm um seine Mutter legte, während er sich gleichzeitig auf der anderen Seite an Jane festhielt. Valentine registrierte auch, wie Ela sich an Olhados Hand klammerte und einmal sogar küßte und wie Grego weinend den Kopf an die Schulter der finsteren Quara lehnte und wie Quara den Arm ausstreckte, um ihn an sich zu drücken und ihn zu trösten. Sie liebten und kannten Ender ebenfalls; aber in ihrer Trauer stützten sie sich aufeinander, eine Familie, die die Kraft zur Gemeinschaft besaß, weil Ender ein Teil von ihnen gewesen war und sie geheilt oder wenigstens die Tür zur Heilung aufgestoßen hatte. Novinha würde überleben und vielleicht über ihren Zorn angesichts der grausamen Streiche, die das Leben ihr gespielt hatte, hinwegkommen. Ender zu verlieren war nicht das schlimmste, was ihr widerfahren war; in mancherlei Hinsicht war es das beste, denn sie hatte ihn losgelassen.
Valentine betrachtete die Pequeninos, die dasaßen, manche von ihnen zwischen den Menschen, manche für sich. Für sie war dieser Ort, an dem Enders Überreste beigesetzt werden sollten, doppelt heilig. Zwischen den Wurzeln von Wühler und Mensch, wo Ender das Blut eines Pequeninos vergossen hatte, um den Bund zwischen den Spezies zu besiegeln. Inzwischen gab es viele Freundschaften zwischen Pequeninos und Menschen, auch wenn noch viele Ängste und
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