Endithors Tochter
war, als raubte er ihr alle Sinne und versetzte sie in einen Traumzustand …
Kaum hatte die Tür sich geschlossen, hörte sie ein Klopfen an einer anderen. Lera hastete die Treppe hinunter zum Haupteingang, von woher es hallte. Zitternd öffnete Lera die Haustür.
Ein Bote stand davor – ein gut aussehender junger Mann mit einem schmalen Schnurrbart. »Ihr müsst Lera sein«, sagte er.
»J-ja. Woher wisst Ihr das?«
»Der Absender dieses Briefes sagte, Ihr wärt die einzige Dienerin im Haus. Hier.« Er händigte ihr ein versiegeltes Pergament aus und wartete.
Lera riss das Siegel auf, da fiel ihr Blick auf den Boten. »Oh – tut mir leid …« Areel bewahrte immer Kupfermünzen auf einem Tischchen bei der Tür auf, davon gab sie dem Mann einige.
»Habt Dank. Und noch einen recht schönen Tag.«
»Euch ebenfalls …«
Endithor hatte sie Lesen gelehrt – und nicht nur sie, sondern alle Dienstboten. Er war der – für einen Edlen sehr ungewöhnlichen – Meinung gewesen, dass alle Menschen, gleich welchen Standes, soviel wie nur möglich verstehen und wissen sollten. Lera dankte jetzt allen Göttern aus tiefster Seele, dass ihr verehrter Lord Endithor sich die Mühe gemacht hatte, sie zu unterrichten – denn der Brief war von dem corinthischen Soldaten Sendes. Er schrieb:
Lera, ich weiß, dass ich Dir vertrauen kann. Vielleicht hast Du inzwischen erfahren, was Deine Herrin mir Entsetzliches angetan hat. Furcht und Grauen erfüllen mich. Ich verstecke mich nicht nur vor Nalor, sondern auch vor Areel. Du musst mir helfen. In Mitras heiligem Namen, hilf mir, wenn du kannst. Bitte komm unbedingt heute Nacht zu dem Ulmenhain außerhalb der Stadt, keine hundert Schritte vom Wachtturm an der Nordwestmauer entfernt. Dort ist es sicher. Ich werde dich da erwarten. Ich weiß, was ich mit dieser Bitte von Dir verlange, aber ich flehe Dich an, im Namen Endithors, des Herrn, den du liebtest, und des Ratsmannes, den ich schätzte, mich dort zu treffen und mich anzuhören. Ich muss Gerechtigkeit haben!
Bis um Mitternacht – Sendes
Erstaunt, atemlos drückte Lera das Pergament an die Brust, dann las sie es erneut und noch einmal. Ja, sie musste tun, worum Sendes sie bat! Aber nein – das konnte sie nicht, das durfte sie nicht. Was wäre, wenn Areel es herausfände? Was wäre, wenn …?
Sie las den Brief ein viertes Mal und hielt mittendrin inne. Mitra und Ischtar! In welcher Gefahr befand Sendes sich? Welchen Wahnsinn hatte ihre Herrin ausgebrütet?
Sie hörte das öffnen einer Tür im ersten Stock, zweifellos die ihrer Herrin. Schwitzend – zitternd – rollte Lera das Pergament zusammen, faltete es noch obendrein und schob es unter ihren Kittel. Dann eilte sie den Korridor entlang und eine Treppe hoch – und blieb erschrocken stehen, als sie sah, wie Tirs und die anderen Diener auf sie zukamen. Ihre Schritte wirkten jedoch seltsam unsicher und sie stierten blicklos vor sich hin. Sie schauten zwar in ihre Richtung, aber sie blickten durch sie hindurch, als sähen sie sie überhaupt nicht …
Als Tirs schleppend näher kam, rief sie verstört: »Tirs? Was ist passiert …?«
»Lera!« Das war die Stimme ihrer Herrin. Zusammenzuckend wandte sie sich von Tirs ab. Areel stand an der Tür zu ihren Gemächern.
Lera drückte sich an die Wand, als Tirs und die anderen wie lebende Tote blind an ihr vorbeischlurften.
»Komm her, Lera!«
Das Mädchen staunte, dass sie überhaupt noch einen Ton herausbrachte, dass sie trotz ihrer schrecklichen Angst noch klar denken konnte. »J-ja, Gebieterin.«
»Komm näher, Lera.« Areel lächelte.
Lera ging zögernd zu ihr, bis sie eine Armlänge vor ihr stehen blieb.
»Hast du Angst, Lera?«
»Ge-gebieterin, ich …«
»Vor mir? Vor ihnen?«
Lera brachte keinen weiteren Ton mehr heraus. Ihr Mund war wie ausgetrocknet.
»Du brauchst dich von jetzt an vor keinem der Diener zu fürchten, Lera. Ich habe sie völlig unter meiner Kontrolle. Sie werden mich beschützen und dich ebenfalls. Und es gibt auch keinen Grund, dich vor mir zu fürchten, Lera.«
Das Mädchen nickte.
»Ich verfüge nun über ungeheure Macht, Lera. Ist es das, was dir Angst macht? Armes Kind. Aber die Diener sind sicher. Ich habe ihre Seelen in Verwahrung und ihre Leiber gehorchen mir völlig. Sie können uns nun viel besser beschützen als zuvor, denn sie empfinden jetzt keinen Hunger und Durst mehr, werden nicht mehr müde und haben auch kein Bedürfnis nach Schlaf, und Schmerzen kennen sie
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