Endithors Tochter
sie die Öllampen an. Erschöpft ließ sie sich in einen Sessel fallen und starrte sich im Spiegel, an. Im Lampenschein wirkten ihre Augen und zitternden Lippen ungewöhnlich dunkel in der Blässe ihres angespannten Gesichts.
Die Rote Sonja hatte also den Talisman, und sie wusste, dass er ein Schutzmittel gegen Zauberei war!
Areel fluchte leise. Sie musste den Talisman zurückbekommen, denn wer ihn besaß, verfügte über seine Macht. Wenn sie ihn hatte, konnte sie Nalor und Kus vernichten. Sie konnte …
Aber sie hatte ihn nicht!
Sie musste ihn bekommen. Sie musste zur Roten Sonja, musste …
Dann war sie auch schon eingeschlafen und träumte, die Lippen murmelten, was sie tun musste, ehe sie sich ihrer Erschöpfung bewusst war.
Es war Vormittag. Sonja war wach und brannte vor Wut. Lera und die Straßenjungen standen stumm und mit fahlen Gesichtern herum – alle außer Stiva, Chosts Freund, der nie wieder die Augen öffnen würde.
Sonja gab Lera Geld. »Geh mit Chost und den anderen irgendwohin, nur fort von hier. Besorgt euch etwas zu essen, und kommt nicht hierher zurück, bis ich euch hole.«
Sie gingen, voll innerer Furcht und Unsicherheit.
Sonja wartete, bis sie weg waren, dann legte sie eine Decke aus ihrem Bett über Stivas Leiche und ging zu einem Posten der Stadtwache in diesem Viertel, um das Verbrechen zu melden.
Zu ihrem Staunen betrachtete man sie nicht voll Argwohn und stellte auch keine verfänglichen Fragen. In der Nacht hatte es noch einen anderen merkwürdigen Mord in einem Hain außerhalb der Stadt gegeben. Überhaupt gab es viele Untaten in Shadizar. Der Tod eines kleinen Jungen, dem das Blut ausgesaugt war, gehörte zweifellos in die Reihe gleicher Verbrechen eines wahnsinnigen Mörders, der der Festnahme bisher so leicht entgangen war, als hätte er sich nach jeder Tat in Luft aufgelöst.
»Wer war der Junge? Sohn? Bruder? Vetter? Neffe?«
»Er hieß Stiva. Keine verwandtschaftliche Beziehung. Ich bin nur auf der Durchreise in dieser Stadt. Er war ein bettelnder Straßenjunge. Ich gab ihm zu essen, und er schlief vor Erschöpfung ein. Ich ließ ihn sich ausruhen und ging fort. Als ich zurückkam, war er tot und ohne Blut.«
Einer der Wächter sagte: »Jetzt bricht dieser Kehlenreißer auch schon ein. Bisher hat er sein Unwesen nur in dunklen Gassen und hinter Schenken getrieben.«
Sonja blickte ihn an. »Habt Ihr eine Ahnung, wer er ist?«
Der Mann zuckte die Schulter. »Wir können noch nichts Sicheres sagen, und wir haben es nicht gern, wenn müßige Vermutungen geäußert werden. Der Ruf der Stadt …«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Shadizars Ruf noch schlechter werden kann, als er ohnedies schon ist«, unterbrach ihn Sonja.
»Trotzdem, wir sind ein Karawanenknotenpunkt und möchten die Kaufleute nicht verscheuchen. Ihr wisst, wie es ist …«
»Aber ein Ilorku treibt sich herum …«
»Benutzt dieses Wort nicht!« sagte der Mann streng.
»Ilorku? Warum nicht?«
»Weil auf der Straße ohnehin schon Panik herrscht und man höheren Ortes ungehalten ist. Ich persönlich glaube nicht an Vampire, aber wir dürfen nicht zulassen, dass das Gerede darüber weitergetragen wird, es würde die Sache nur schlimmer machen.«
»Ja«, pflichtete ihm der andere Wachmann bei. »Wir können solches Gerede nicht dulden.«
Sonja runzelte die Stirn. »Ihr werdet mit mehr als nur Gerede zu tun bekommen, wenn ihr diesen Wahnsinnigen nicht erwischt.«
Ohne ein weiteres Wort ging Sonja. Nachdem sie in einer Gaststube gefrühstückt hatte, kehrte sie in ihre Kammer zurück, wo man gerade Stivas Leiche abholte. Ihr Hauswirt lag bereits auf der Lauer und fragte sie, weshalb der Mörder sich ausgerechnet ihre Stube und sein Haus für diese neueste Gräueltat ausgesucht hatte. Das sei schlecht fürs Geschäft! Sonja erkannte, dass sie sich wieder einmal unbeliebt gemacht hatte.
»Ihr wollt, dass ich ausziehe? Meint Ihr das?«
Der fette Mann zog finster die Brauen zusammen. »Ich werde ein Auge auf Euch haben.«
»Ich gehe, verdammt! Ihr braucht es bloß zu sagen! Das ist mir lieber als Euer Argwohn!«
»Ich werde Euch nur im Auge behalten. Mit meinem einen, guten Auge. Und damit Ihr’s wisst, es ist ein scharfes Auge! Weib mit Schwert! Pah!«
Sonja verließ ihre Kammer wieder und suchte nach Lera und Chost. Sie fand sie schon bald. Die anderen Straßenbengel hatten sich von ihnen getrennt, um sich einzeln durchzuschlagen. Lera und Chost saßen auf einer Bank auf einem nahen
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