Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
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A lissa schlich langsam die Treppe hinauf, die Röcke fest mit beiden Händen gerafft. Sie hielt den Blick auf den Treppenabsatz vor ihr gerichtet, tastete nach der nächsten Stufe und schob sich gemächlich hoch, um einen möglichst gelangweilten, beiläufigen Eindruck zu erwecken. Das hier war keine gute Idee, dachte sie. Sie hatte den ganzen Winter lang Bailics Mahlzeiten zubereitet und hinaufgebracht, und sie wusste, dass sie neuen Ärger geradezu herausforderte, indem sie es riskierte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie atmete langsam ein und zögerte, während in ihrem Innern ein Kampf zwischen Neugier und Vernunft tobte. Mit klopfendem Herzen ging sie weiter die Treppe hinauf. Die Neugier hatte gewonnen. Nicht sonderlich überraschend, das musste sie sich eingestehen.
Wie üblich war sie lange vor dem Morgengrauen aufgewacht, weil ein vages Gefühl der Unzufriedenheit sie aus den warmen Decken zog. Doch sie fand nichts, was den heutigen Tag von gestern unterschieden hätte. Die Spatzen pickten immer noch auf den Dächern der Feste herum, der eisige Nebel stieg auf, während der Himmel sich in einem falschen Versprechen auf Sonnenschein erhellte, die Feuer mussten geschürt werden, und Mäuse ergriffen die Flucht, wo immer sie um eine Ecke kam.
Dennoch war sie von einer unerklärlichen Rastlosigkeit erfüllt, einem Drang, etwas zu tun. Schlimmer noch, sie konnte nicht einmal sagen, was sie eigentlich tun sollte. Es fühlte sich beinahe so an, als hätte sie es bereits tun sollen, und das ungute Gefühl, etwas versäumt zu haben, ließ ihr keine Ruhe. Als ihre Füße heute Morgen den Boden berührt hatten, war das seltsame Bedürfnis in ihr erwacht, herauszufinden, was Bailic heute zum Frühstück wünschte. Das Gefühl zog sie die Treppe des Turms hinauf, während der gesunde Menschenverstand sie warnte, es wäre besser, umzukehren und wieder hinunter in die Küche zu gehen. Bis heute war es ihr völlig gleichgültig gewesen, ob der Verrückte das Frühstück, das sie ihm zubereitete, mochte oder nicht. Ja, verrückt, dachte sie, denn jemand, der sich als Besitzer der Feste bezeichnete, obgleich sie ihm offensichtlich nicht gehörte, musste verrückt sein. Sie bereitete Bailic überhaupt nur deshalb seine Mahlzeiten zu, weil sie ihn von ihrer Küche fernhalten wollte. Doch nun schien es so, als könnte diese Unzufriedenheit endlich nachlassen, wenn sie herausfand, was er zu essen wünschte.
Alissa blieb stehen, als sie merkte, dass ihre Fingerspitzen kribbelten. Sie ließ die gerafften Röcke fallen und starrte in wachsender Besorgnis auf ihre Hände hinab. »Bei den Hunden des Navigators«, flüsterte sie, während sie die Hände zu Fäusten ballte und wieder streckte. Ihre Finger kribbelten nur, wenn sie sich einem gefährlichen Bann näherte, und dann war das Gefühl eher schmerzhaft, nicht so warm und angenehm. Das fühlte sich eher an wie …
»Damals, als ich mein Buch der Ersten Wahrheit in Händen hatte«, flüsterte sie bestürzt und lehnte sich an die steinerne Wand. Ein Laut des Abscheus vor sich selbst entfuhr ihr. »Zu Asche verbrannt«, brummte sie. »Strell wird mich in einen Pferch sperren müssen wie eine Mutterziege.«
Es war ihr Buch, das ihr diese unerträgliche Rastlosigkeit eingegeben hatte, das sie verlocken wollte, zu kommen und es sich zurückzuholen, denn es scherte sich nicht darum, dass Bailic Alissa töten würde, falls er sie dabei ertappte. Letzten Herbst war sie dem stummen Ruf ihres Buches unwissentlich von ihrem Bauernhof im Hügelland durch die Berge bis zu der legendären Feste gefolgt. Nie hätte sie es für möglich gehalten, dass die Geschichten ihres Papas über die Feste wahr sein könnten und dass ihr Papa, Bewahrer Meson, irgendetwas anderes als ein Hochland-Bauer gewesen sein könnte.
Alissa hatte zwar die Feste leer vorgefunden, bis auf Bailic, einen gefallenen Bewahrer, doch einst hatten die Meister hier gelebt, eine Rasse geflügelter Gelehrter mit magischen Fähigkeiten, die sich als wilde Bestien ausgaben, Rakus genannt. Die Meister lehrten eine ausgewählte Gruppe von Menschen, die sie Bewahrer nannten, wie diese ihre vergleichsweise geringen magischen Fähigkeiten nutzen konnten; die Bewahrer leisteten im Gegenzug kleine Dienste für die Meister und waren ihnen zur Loyalität verpflichtet. Das Buch der Ersten Wahrheit enthielt die machtvollsten Geheimnisse der Meister. Nun, da Bailic alle Meister bis auf einen in den Tod
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