Endithors Tochter
Er hatte früher nie daran gedacht, sie gegen Vampire einzusetzen, doch seit Kus aufgetaucht war, hatte er doch des Öfteren mit diesem Gedanken gespielt.
Er schloss den Waffenschrank, steckte den Eisendolch in seinen Gürtel und verließ sein Gemach durch eine schmale Seitentür, die zu einer nicht weniger schmalen Treppe und einem Geheimgang in dem alten Haus führte. Als Nalor hier eingezogen war und von diesen Geheimgängen erfuhr, hatte er die Türen alle verschließen lassen. Nun benutzte nur noch er sie, um heimlich seine Gäste zu beobachten oder sich unbemerkt von einem Teil seines Hauses zu einem anderen zu begeben.
Er stieg die Treppe hinunter zu den alten Kellergewölben tief unter der Erde, bis zu dem aus natürlichem Stein gehauenen, lichtlosen Raum, in dem Kus während der Stunden des für ihn tödlichen Tageslichts schlief. Der steinerne Sarkophag befand sich am hintersten Ende der Kellerräume. Nalor kannte den Weg, obwohl er noch nicht sehr oft hier gewesen war und erst zweimal seit Kus’ Ankunft: das erste Mal, um dem Vampir zu zeigen, wo er während des Tageslichts sicher war; und das zweite Mal mit seinen Wächtern, als sie einen Haussklaven verfolgten, der gehofft hatte, hier seiner Strafe zu entgehen. Es war kurz nach Sonnenuntergang gewesen, und sie waren die Treppe erst halb hinuntergekommen, als sie Schreie hörten, dann höhnisches Gelächter und weitere Schreie. Daraufhin hatten sie die Suche nach dem Sklaven nicht mehr fortgesetzt. In jener Nacht hatte sich Kus auch nicht sehenlassen.
Nalor nahm eine Fackel von der. Wand. Sie war kalt und fast unbenutzt. Mit Feuerstein und Stahlraspel rieb er Funken. Der klebrige Teer der Fackelspitze fing schnell Feuer, und schwarzer Rauch stieg auf. Die Fackel vor sich ausgestreckt, stieg er die Treppe hinunter zu dem Felsenkeller.
Der Fackelschein warf Nalors Schatten von der Mitte des Raums bis zu den Wänden. Ratten wichen ihm hastig aus und versteckten sich in den Schatten von Nischen und Ecken. Spinnweben streiften gegen Nalor und blieben kleben. Er keuchte erschrocken und wischte sie sich aus dem Gesicht.
Spinnweben?
Es dürften doch gar keine hier sein, schließlich nahm Kus diesen Weg jeden Abend und Morgen, oder nicht?
Nalor ging ein paar Schritte weiter. Die Fackel zitterte in seiner Hand. Flackernd fiel ihr Schein auf den uralten Steinsarkophag, der auf einem Basaltaltar stand. Wer immer in ihm einst zur letzten Ruhe gebettet worden war, war daraus verschwunden. Vermutlich hatten Plünderer den Leichnam gestohlen, in der Hoffnung, unter den Wickeltüchern Kleinode zu finden – wahrscheinlich lange ehe über den unterirdischen Gängen Häuser erbaut wurden, ja vielleicht sogar bevor Shadizar zum Karawanenknotenpunkt wurde. Waren diese Gänge etwa gar zur Zeit des alten Acheron aus dem Stein gehauen worden? War noch Luft hier, wie jene sie geatmet harten, die ihre Toten in dieser vergessenen Zeit hier bestatteten?
Nalor schwitzte, obgleich er vor Furcht zitterte. Schickte Kus ihm vielleicht gar furchterregende Gedanken aus seinem Steinsarg?
An der Wand war ein Halter. Nalor steckte seine Fackel darauf, zog das Eisenmesser aus dem Gürtel und schlich zu dem Sarkophag. Sein Deckel befand sich in Brusthöhe.
Mitra, betete Nalor, Mitra hilf mir!
Mit vor Angst fast steifen, eisigen Fingern versuchte er den Deckel zu heben. Er war offenbar sehr schwer. Er schob die Klinge unter den Deckel und stemmte ihn hoch. Ein Zischen wie von entweichender Luft erklang, dann blies Staub oder auch nur Dunst gegen Nalors Gesicht, dass er husten musste.
Aber der Deckel ließ sich nun öffnen. Nalor drückte mit beiden Händen, und der Deckel glitt schwerfällig ein Stück zurück, weit genug, um ins Innere blicken zu können. Nalor schaute in den Sarg.
Kus sah aus wie eine Leiche. Er schien nicht zu atmen, seine Lider zuckten nicht, es hatte den Anschein, als wäre keinerlei Leben in ihm. Aber Nalor wusste sehr wohl, wenn er das Messer nicht in des Unholds Brust stieße, würde Kus nach Sonnenuntergang erwachen, die Geheimtreppe hochsteigen und in sein Gemach kommen.
Mitra, hilf mir! Ihr Götter, lenkt meine Hand! flehte Nalor stumm.
Er zauderte nicht länger, sondern hob das Eisenmesser, zielte mit der Spitze auf Kus’ Herz …
Doch obgleich kein Laut zu vernehmen und nicht die geringste Bewegung bemerkbar war, schob sich Schwärze vor Nalors inneres Auge, und als er einen Moment später wieder zu sehen vermochte, war seine Hand noch erhoben und
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