Endlich geborgen
klingt angenehm, stellte Gabriel fest, tief und voll, noch ein wenig atemlos von ihrem Zweikampf. „Wann sprachen Sie zuletzt mit Miss Witherspoon?” wollte er wissen.
„Wann ich das letzte Mal mit ihr sprach?” wiederholte sie zögernd. „Ich bin nicht sicher.
Vor einigen Tagen. Vielleicht letzten Dienstag oder Mittwoch. Aber ich weiß wirklich nicht, was Sie das angeht.”
„Und es war letzte Woche, sagen Sie?”
„Ja oder einige Tage früher.” Sie schüttelte sich das Haar aus dem Gesicht. „Hören Sie, mir gefällt Ihre Art nicht. Mein Sohn und ich sind geladene Gäste in diesem Haus, und Sie sind hier eingedrungen und haben mich fast zu Tode erschreckt.”
Gabriel vermutete, dass einiges von dem, was die Frau sagte, stimmte. Anderes aber auch wieder nicht. Vor allem, was das angebliche Gespräch mit Miss Witherspoon in der vergangenen Woche betraf. Das dürfte etwas schwierig gewesen sein in Anbetracht der Tatsache, dass Miss Witherspoon vor zwei Wochen gestorben war.
Und jeder, der sie kannte, wusste auch, dass Miss Witherspoon in ihren zweiundneunzig Lebensjahren nie, wirklich niemals jemand in ihr Haus eingeladen hatte.
Was wiederum bedeutete, dass diese Frau ihn in einigen Punkten belog.
„Hören Sie, Mister, es war ein langer Tag.” Die Anspannung war ihr deutlich anzuhören.
„Mein Sohn und ich sind müde. Wenn Miss Witherspoon nicht in der Stadt ist, werde ich ihr eine Nachricht hinterlegen, und morgen werden mein Sohn und ich dieses Haus verlassen.”
Was ging es ihn an, wenn diese Frau hier blieb und am nächsten Tag weiterfuhr? Warum sollte er ihr eine Übernachtung in einem leeren Haus nicht gönnen?
Doch der Ausdruck in ihren Augen ließ ihn nicht los. Lag nicht eine Spur Verzweiflung oder Angst darin? Was immer es sein mochte, er musste es herausfinden.
Verdammt, Gabriel, es geht dich nichts an, ermahnte er sich.
Er wollte wahrhaftig keine Komplikationen in seinem Leben. Weshalb tat er nicht, weswegen er hierher gekommen war? Und danach würde er verschwinden, zu Reese in die Kneipe, um ein oder zwei Bier zu trinken, und nicht an den verängstigten Ausdruck in den Augen der Fremden denken. Am Morgen würde sie fort sein, und sie konnten beide vergessen, dass sie einander begegnet waren.
Das sollte er tun.
Aber er fühlte sich dazu nicht im Stande.
„Miss Witherspoon ist vor zwei Wochen gestorben”, sagte er ruhig. „Und jetzt erklären Sie mir bitte, warum Sie hier sind.”
Ihr Atem schien zu stocken, und sie schloss die Augen. Dann holte sie tief Luft und sah ihn an. „Wie ist das passiert?”
„Sie schlief einfach ein und wachte nicht mehr auf”, erwiderte er. „So viel Glück sollten wir alle mit zweiundneunzig Jahren haben.”
„Am Telefon wirkte sie viel, viel jünger”, meinte die Unbekannte nachdenklich. „So lebensfroh.” •
„Das wäre eine Möglichkeit, sie zu beschreiben”, stimmte Gabriel zu. Ihm fielen noch einige andere ein, die er lieber für sic h behielt.
„Das mit Miss Witherspoon tut mir Leid”, bemerkte die Frau unvermittelt und richtete sich kerzengerade auf. „Und da wohl der Eindruck entstanden ist, ich hätte gelogen, werden mein Sohn und ich jetzt gehen.”
Sie fasste den Jungen bei der Hand und schritt mit ihm zielstrebig zur Tür, die zur Küche führte. „Komm, mein Kleiner, wir verschwinden von hier.”
Gabriel versperrte ihr den Weg. „Sie haben mir nicht Ihren Namen gesagt.”
„Ich glaube nicht, dass Sie der etwas angeht”, entgegnete sie kühl und versuchte, an ihm vorbeizukommen.
Vergeblich.
Wütend kniff sie die Augen zusammen. Gabriel stand jetzt so nahe vor ihr, dass ihm deren Farbe auffiel. Grau, mit einem schwarzen Ring um die Iris.
Als er das Handy aus der hinteren Tasche seiner Jeans zog, stellte er fest, dass das Grau jetzt so kalt wie Stahl aussah.
„Lassen Sie mich vorbei”, forderte sie ihn mit scharfer Stimme auf.
„Ich fürchte, das kann ich nicht.” Er tippte eine Nummer. „Und da Sie nicht mit mir sprechen wollen, müssen wir jemand rufen, der mit Ihnen redet.”
„Nein.” Ängstlich blickte sie auf das Mobiltelefon. „Bitte rufen Sie nicht die Polizei. Bitte nicht.”
„Ich bin draußen im Witherspoon Haus”, sagte er gleich darauf. „Komm hierher, so schnell du kannst. Bring zwei von Reeses Besten mit.” Er schwieg kurz, ehe er hinzufügte: „Ich erkläre es dir später.”
Gabriel schaltete das Handy aus und bemerkte den panischen Aus druck im Gesicht der Fremden, als
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