Endstation Belalp - ein historischer Bergkrimi
sie nicht mehr befreit werden konnten.
«Wie schrecklich», zuckt Amalia zusammen, «wieso hat man die Leichen denn damals nicht geholt? Wenn bei uns ein Jäger auf der Jagd verunfallt oder einer beim Graben von Wasserleiten umkommt, macht sich ein ganzes Dorf auf die Suche und ruht nicht eher, bis die menschlichen Überreste gefunden werden.»
Giovanna heult laut los: « Justement! On les a laissés!! »
Das hätten die Leute im Dorf ihnen eben sehr übel genommen. Die Engländer seien damals ziemlich rasch abgereist und hätten sich nicht mehr blicken lassen.
« On nous a promis – mon pêre a toujours dit. »
«Sie haben sogar versprochen, dass sie sich den Familien gegenüber erkenntlich zeigen würden», erklärt nun Signora Carabellese. «Aber soviel ich weiss, ist ausser ein paar Münzen nichts verteilt worden. Das bewegt die Gemüter dort bis heute. Und jetzt das. Die Familie meint, endlich widerfahre ihr ein wenig Gerechtigkeit. Sie könne die vielen Jahre ohne Einkünfte von Pietro und Guido auf diese Art wettmachen. Zugegeben, Madame Germanier, eine makabere Vorstellung.»
Amalia seufzt tief. Sie kann sich das lebhaft vorstellen. Was mir nützt, das nutze ich. In der Not kennt man kaum Rücksichten.
«Und der Pfarrer hat nichts dagegen?», erkundigt sie sich nur.
Giovanna zuckt die Schultern.
« Il est en vacances , er ist in den Dolomiten. Wir schliessen, wenn er zurückkommt.»
«Und weshalb haben Sie das alles vorhin, als Sir Butterworth dabei war, nicht erzählt?», forscht Amalia behutsam weiter.
«Sie hatte Angst vor den Herren», kommt die Signora ihrer Nichte zuvor, «sie war so erschrocken, dass sie kein Wort hervorbrachte.»
Giovanna senkt den Blick und tupft sich mit dem Damasttaschentuch der Signora eine Träne aus dem Augenwinkel.
«Giovanna will Ihnen noch etwas anderes erzählen. Mach schon», fordert die Signora.
« Oui. C’est Monsieur Duncan. »
«Was ist mit ihm?», Amalias Gesicht versteift sich.
«Er war chez nous cet été , bei uns in Chamonix.»
Giovanna erzählt, Duncan habe sich in Chamonix die Ausstellung angesehen. Er sei begeistert gewesen, habe sie mehrmals besucht und alles genau inspiziert. Er habe sogar Zeichnungen angefertigt. Eine ganze Woche lang sei er jeden Tag gekommen und habe alles notiert. Ihr sei das komisch vorgekommen, aber weil er jeden Tag den Eintritt entrichtet habe, habe sie nichts gesagt. Was er denn mit den Zeichnungen vorhabe, habe sie ihn gefragt. Er habe darauf nur etwas gemurmelt und ihr einen Franc extra zugesteckt. Dann habe sie ihn überraschenderweise hier auf der Belalp wieder angetroffen. Sie hätten sich ein-, zweimal unterhalten. Und da habe ihr Duncan von seinem Projekt erzählt. Er habe seine Skizzen unterdessen zu einer Bilderserie verarbeiten lassen und plane eine Ausstellung in London. «Über die Gefahren der Bergsteigerei» solle sie heissen. Er erhoffe sich ein zahlreiches Publikum.
«Haben Sie die Zeichnungen denn gesehen?»
«Er at mir ein paar davon gezeigt, aber er at mir verboten, darüber auch nur ein Wort zu sagen. Es sollte eine Überraschung werden für die Auptversammlung des London Alpine Club, une première comme on dit. »
«Und weshalb erzählen Sie mir das alles jetzt?», fragt Amalia.
« Ben , Monsieur Duncan at mir erzählt, seine Tante abe die Familie Dellatorre in Verdacht gebracht. Und da dachte ich…», wieder weint und schnäuzt sich Giovanna.
Signora Carabelleses Kommentar dazu fällt kurz und bündig aus:
«Es ist doch offensichtlich, dass dieser Duncan etwas mit der Sache zu tun hat. Haben Sie ihn denn nicht vernommen?»
«Doch, aber von dieser Geschichte in Chamonix hat er nichts erzählt», meint Amalia nachdenklich.
Man wird ihn schleunigst dazu befragen müssen, fährt es ihr durch den Kopf. Er hätte sogar ein Motiv. Wenn er nämlich den Professor nicht daran hindern kann, die Sache mit dem Museum auffliegen zu lassen, wird nichts aus seiner Ausstellung. Dadurch würde er viel Geld verlieren. Und das wäre Duncan sehr unangenehm. Amalia weiss, dass er sich allzu gern vom Gängelband seiner vermögenden Tante befreien würde. Da hätte er eine weitere Chance vertan…
16. Man versucht es ein weiteres Mal
Amalia hat Kamil und Sir Butterworth über das Gespräch mit Giovanna und der Signora Carabellese in Kenntnis gesetzt. Nur das Unglück, das über Giovannas Familie gekommen ist, hat sie verschwiegen. Sie hat die beiden Männer jedoch über Duncans Besuche in Chamonix
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