Endstation Nippes
vielleicht, ich kann mich von dem Kind nicht lösen. Und das wäre sozusagen ein Minuspunkt für eine Pflegemutter.« Sie lächelte etwas kläglich. »Wissen Sie, wir müssen uns immer lösen können. Von den Kindern. Egal, wie sehr sie uns ans Herz gewachsen sind. Egal, wie schlecht es ihnen bei den leiblichen Eltern geht.« Sie senkte die Stimme. »Das ist manchmal nicht leicht.«
Ich schwieg. Wünschte mir, Gitta wäre bei diesem Gespräch dabei. Sie hat so etwas Mütterliches. Sie hätte gewusst, was man der Frau sagen könnte. Wäre ich schon ein richtiger Bodhisattva, hätte ich das natürlich auch gewusst. Aber ich bin eben nur ein Bodhisattva-Azubi. Und das vermutlich noch lange. Außerdem bin ich ein Arbeiterkind und ehemaliger Punk, und Frauen wie diese Grimme verunsichern mich total. Selbst wenn sie mir leidtun. Ich gab dem Kellner ein Zeichen, dass ich zahlen wollte.
»Für ein Interview brauchen Sie mich jetzt wohl nicht mehr?« Das klang fast erleichtert. Klar, wer erzählt schon gern vor dem Mikrophon von seinen Schwächen. Ich fand aber gerade das interessant. Glatte Geschichten haben mich noch nie interessiert. Ich sagte ihr das, wenn auch in etwas gewählteren Worten.
»Aber was könnte ich Ihnen denn erzählen?«
»Genau das. Warum es so schwierig ist, diese Balance hinzubekommen zwischen der Liebe, die man zu einem Pflegekind entwickelt, und der Bereitschaft, es wieder gehen zu lassen.«
Sie zögerte. Der Kellner kam, ich bezahlte für uns beide, Frau Grimme protestierte schwach, ließ es aber zu.
»Nun gut«, sagte sie im Aufstehen. »Vielleicht ist es wirklich wichtig, diesen Konflikt auch einmal öffentlich darzustellen. Aber ich möchte das nicht mit meinem eigenen Namen machen.«
Ich versicherte ihr, das sei kein Problem. Wir vereinbarten einen Interviewtermin, und ich raste ins Studio.
Der Schnitt lief gut, obwohl ich mich kaum konzentrieren konnte. Ich grübelte die ganze Zeit darüber nach, ob Jessicas Pflegeeltern vor genau so einem Konflikt mit Nele standen. Angenommen, Nele packte die Therapie und blieb clean. Und wollte Jessie zurückhaben. Aber, überlegte ich weiter, die Kinder müssen da doch auch ein Wörtchen mitzureden haben! Und Jessie würde sich weigern, zu Nele zu gehen. Vielleicht hatte die Kleine von der Grimme wirklich zu ihrer richtigen Mama gewollt. Und merkte erst jetzt, dass sie es bei der Pflegemutter besser hatte. Vermutlich kam es ja auch darauf an, wie alt die Kids waren, wenn sie den Eltern weggenommen wurden.
»Stopp!«, rief ich mich zur Ordnung. »Du machst jetzt diese Sendung hier, Leichter. Die über die Pflegekids machst du danach.« Das mit der Achtsamkeit muss ich noch trainieren. Zum Glück hatte ich einen von den superfitten Tontechnikern, die uns Autoren eigentlich gar nicht brauchen. Als wir fertig waren, fragte ich ihn, ob er den Regisseur kenne, mit dem ich am nächsten Tag arbeiten würde. Meine Redakteurin hatte mir nur gesagt, der sei neu beim WDR , habe aber viel Erfahrung und ich solle mal gucken, wie ich mit ihm klarkäme. Ich machte mich also auf das Schlimmste gefasst. Wenn eines meiner Stücke mit Regie gemacht wird, bin ich normalerweise bei der Produktion nicht dabei, denn Regisseure mögen es nicht, wenn wir Autoren ihnen über die Schulter gucken. Aber der Typ hatte bei der Vorbesprechung am Telefon so was von arrogant und desinteressiert geklungen, dass ich beschlossen hatte: Diesmal gucke ich mir an, was gemacht wird. Ich hatte es ihm mitgeteilt, als wäre das die selbstverständlichste Sache der Welt. Er hatte ziemlich befremdet reagiert, aber davon hatte ich mich nicht beeindrucken lassen. Das Stück ging schließlich als meines auf Sendung, und so sollte es dann auch klingen.
Der Techniker wusste auch nur, dass der Mann neu war und, soweit er gehört hatte, vorher beim Deutschlandradio in Berlin gearbeitet hatte. Als ich nachbohrte, meinte er, er habe gehört, der sei gut, aber auch ziemlich arrogant. Na, klasse. Ich freute mich schon auf die Produktion.
Ich schob das Rad durch den Bahnhof und verrenkte mir den Hals in alle Richtungen. Ein paar Kids sahen verdammt nach Trebe aus, aber sie waren älter und warteten vermutlich auf Freier. Von »meinem Kleinen« keine Spur. Mir fiel ein, dass sich die Sozialarbeiter von »Auf Achse« noch nicht gemeldet hatten, und nahm mir vor, sie anzurufen. Ich fühlte mich müde und ausgelaugt, und dass mich auf dem Breslauer Platz ein Taxi schnitt und beinahe umfuhr, hob meine Laune
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