Endstation Nippes
kaufen.«
Meine Mutter ist eine alte Gewerkschafterin. Sie hat uns mit einer reichlichen Portion Klassenbewusstsein erzogen. Und mit dem Grundsatz: Wenn einer noch weniger hat als du, dann musst du ihm etwas abgeben. Wir lästerten noch ein Weilchen über meine Schwägerin, dann hängte ich ein.
Der kleine Walter war unser Nachbarsjunge in der Glasstraße. Er lebte bei seiner Tante, seine Mutter war tot, der Vater unbekannt, die Tante ein Monster, der Onkel auch nicht viel besser. Erwin, sein Cousin, triezte den Kleinen, wenn er mal wieder schlecht drauf war, steckte ihm aber auch manchmal etwas zu, damit er sich ein Eis oder sonst was Süßes kaufen konnte. Von seiner lieben Tante bekam Walter nämlich nichts. Außer Prügel und Beschimpfungen. Meine Mutter lud ihn immer mal wieder zum Essen ein oder auf ein Stück Kuchen, und ich sollte mit ihm spielen. Was mir gar nicht in den Kram passte. Ich las lieber oder spielte mit den anderen Jungs Fußball. Walter hatte etwas an sich, das mich zu Grausamkeit reizte. Aber einmal, da war ich sieben oder acht, kam er am ersten Weihnachtsfeiertag zu uns. Meine Mutter machte ihm eine heiße Schokolade und setzte ihm einen Teller Weihnachtskekse vor. Dann schleppte sie mich ins Kinderzimmer und sagte: »Guck mal, welches von deinen Geschenken du dem Walter abgeben möchtest.« Ich starrte sie fassungslos an. So viel hatte ich nun auch wieder nicht bekommen.
»Hörma, Katja«, flüsterte meine Mutter und legte mir den Arm um die Schulter, »der Walter hat nix gekriegt. Gar nix. Der kriegt auch zum Geburtstag nix. Dem Erwin haben die ‘n Rad gekauft, überleg mal. Und der Kleine is mal wieder leer ausgegangen.«
Das haute mich dann doch um. Nichts zu Weihnachten! Ich sah mich um und überlegte. Griff schließlich nach dem Stofflöwen, den mir Erna geschenkt hatte. Ich hatte schon einen Tiger, also konnte ich zur Not auf ein zweites Raubtier verzichten. Ich ging zurück in die Küche, hielt Walter den Löwen hin und murmelte: »Schöne Weihachten.« Den Blick, mit dem er mich ansah, habe ich bis heute nicht vergessen. Und dann sagte er: »Aber ich hab doch gar nix für dich!«
DREI
Ich nahm all meinen Mut zusammen und schaltete das Licht über dem Vergrößerungsspiegel an. Sagte mir: »Alles ist vergänglich. Vor allem Jugend und Schönheit.« Dabei bin ich nicht gerade hässlich. Aber vierzigeinhalb. Mit zwanzig war ich mir absolut sicher gewesen, dass ich ein derartiges Gruftialter gar nicht erst erreichen würde. Ich hatte auch einiges angestellt, um vorher abzudanken. Die die Götter lieben, sterben bekanntlich jung. Aber offenbar hatte ich mich nicht genügend angestrengt. Denn ich lebe immer noch und muss mich nun mit den grauen Haaren konfrontieren, die sich in meine roten Locken geschmuggelt haben. Heimlich, still und leise. Aber unübersehbar. Was soll’s, sagte ich mir, steh dazu! Altern ist eben nichts für Feiglinge.
Ich malte mir die Lippen an und pappte ein Pseudo-Piercing an meinen rechten Nasenflügel. Die Löcher meiner alten (echten!) Punk-Piercings waren längst wieder zugewachsen. Und da ich als Buddhistin nicht nur keine Motten, sondern auch mich selbst nicht verletzen darf, muss es jetzt halt ein Glasstein zum Ankleben tun. »Alles vergeht«, murmelte ich erneut mein Mantra. Man muss die Dinge nehmen, wie sie kommen. Ganz nach der alten buddhistischen Kölner Weisheit: »Et is, wie et is, und et kütt, wie et kütt.« Bloß gut gegangen ist es nicht immer. Zumindest bei mir nicht.
Ich hatte Stefan angerufen und ihm vorgeschlagen, zu Franco zu gehen. Mit dem Lockruf: Vielleicht kriegen wir ja noch einen Tisch draußen. Ich wollte noch nicht mal, dass er und Nele sich zufällig auf dem Flur trafen. Mein Liebster ist, was Beikonsum betrifft, ziemlich straight drauf. Ich seh das etwas lockerer. Schließlich ist man auf Methadon sowieso nicht clean. Aber da ist der Mann meiner Träume anderer Ansicht. Und ich hatte keine Lust, mit ihm zu streiten.
Franco stand vor der Tür und rauchte eine Zigarette. »Da werd ich mich nie dran gewöhnen!«, stöhnte er.
»Ich auch nicht«, seufzte Stefan.
»Irgendwann werden sie das Rauchen ganz verbieten«, mutmaßte ich. »Dann müssen wir uns die Kippen illegal auf der Szene besorgen.«
Franco lachte.
»Also ich bin froh«, meldete sich eine Frau zu Wort, die an einem der wenigen Außentische saß, »dass in den Restaurants nicht mehr gequalmt wird!«
»Deshalb nehmen Sie uns die paar Raucherplätze weg?«,
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