1569 - Carlottas Todesangst
Sein Ziel war ein bestimmtes Haus. Ein angeblich leeres Haus, und das wollte er durchsuchen.
Da war er Spezialist. Seine Ausbildung hatte er bei einem Abwehrdienst absolviert. Dort hatte man ihn auch den Schnüffler genannt, weil er in der Lage war, seine Auftraggeber hundertprozentig zufriedenzustellen, wenn es darum ging, etwas herauszufinden oder zu beschaffen.
Diesmal waren es Unterlagen, die es geben musste, obwohl deren Besitzerin es stets abstritt.
Er hatte Zeit, viel Zeit. Eine ganze Nacht lang.
Er wusste, dass das Haus und die Praxis der Tierärztin leer standen, weil sie angeblich für eine Woche in Urlaub gegangen war. Auf diese Informationen musste sich der Schnüffler verlassen, und es war bisher auch alles gut gelaufen.
Weit hatte er es nicht mehr.
Um diese Zeit war in dieser Wohngegend kaum ein Auto unterwegs. Wer hier lebte, der hatte längst Feierabend gemacht. Hier als Tierärztin zu arbeiten war sicherlich kein schlechtes Geschäft.
Neben einer Hecke blieb er stehen. Er konnte nicht über sie hinwegschauen, was auch nicht nötig war. Ein Blick durch eine breite Lücke, die nicht einmal von einem Tor versperrt war, reichte ihm aus.
Das Haus stand auf einem großen Grundstück. Bis zur Vorderfront hin erstreckte sich ein gepflegt wirkender Grasteppich. Wie es an der Rückseite aussah, wusste er nicht. Er wollte es zunächst auf dem ganz normalen Weg betreten.
Nichts warnte ihn vor irgendwas.
Hin und wieder hörte er Musikfetzen oder das Lachen eines Partygastes.
In dieser Gegend ließ man es eben locker angehen.
Seine Vorsicht hatte der Schnüffler nicht außer Acht gelassen. Er atmete erst auf, als er die Tür erreicht hatte und unter dem vorspringenden Regendach anhielt.
Jetzt begann seine eigentliche Aufgabe. Schlösser waren für ihn nie ein Problem gewesen. Außerdem konnte er sich Zeit lassen, und sollte er hier wirklich scheitern, würde er sich eine der anderen Türen vornehmen.
Er bückte sich. Ein schmaler Lichtstrahl traf das Ziel. Die kleine Lampe war in seiner Uhr eingebaut, und so konnte er sich intensiv um das Schloss kümmern.
Der Schnüffler brummelte einen Kommentar vor sich hin, der recht zufrieden klang. Seiner Meinung nach würde es nicht lange dauern, dann hatte er die Tür offen.
Bis ihn ein Geräusch erschreckte.
Der Schnüffler schrak zusammen.
Das Geräusch passte ihm nicht.
Er richtete sich auf.
Und wieder war es da.
Diesmal über ihm! Aber da war nichts, nur das abgeflachte Dach, dessen gesamte Fläche er nicht überblicken konnte. Der Schnüffler ging zwei Schritte von der Tür weg und drehte sich auf der Stelle.
Da war nichts.
Aber sein Misstrauen schwand nicht. Der Mann kannte sich aus. Er wusste genau, dass er sich nicht geirrt hatte, aber ihm war nicht klar, wo genau das Geräusch aufgeklungen war.
Nachdem mehr als eine Minute vergangen war und er nichts mehr gehört hatte, setzte er seine Arbeit fort. Er ging wieder auf das Haus zu, drehte den Kopf, um sich umzusehen, und vergaß dabei, nach oben zu schauen.
Genau das nutzte jemand aus.
Vom Dach her fiel etwas auf ihn zu.
Dass er es noch sah, war Zufall, weil er seinen Blick im letzten Augenblick in die Höhe gerichtet hatte. Aber was ihn genau traf, das bekam er nicht mehr mit.
Ein harter Gegenstand erwischte den Mann am Kopf und riss ihn von den Beinen. Er war schon bewusstlos, noch bevor er der Länge nach auf den schmalen Plattenweg schlug…
***
Carlotta, das Vogelmädchen, atmete erst auf, nachdem es den bewusstlosen Mann ins Haus gezerrt und die Tür geschlossen hatte.
Das war besser gelaufen, als sie gedacht hatte.
Von der rechten Stirnseite des Mannes rann Blut, was Carlotta nicht weiter störte. Sie hatte andere Dinge zu tun, und die wollte sie augenblicklich in die Tat umsetzen, denn für sie war es die letzte Chance, oder fast die letzte.
Carlotta zerrte den Mann auch nicht tiefer in das Haus hinein.
Sie musste sich erst einmal selbst beruhigen. Es war nicht leicht für sie gewesen, einen Menschen aus dem Hinterhalt auszuschalten. Sie gehörte nicht zu den Menschen, denen so etwas Spaß bereitete, aber letztendlich war sie froh darüber, dass sie so gehandelt hatte.
Es ging nicht um sie, die junge Vogelfrau, sondern um die Person, der das Haus gehörte. Um Maxine Wells, die Tierärztin, die zugleich so etwas wie eine Ersatzmutter für Carlotta geworden war, nachdem das Vogelmädchen es geschafft hatte, aus der Genklinik zu fliehen. Dabei war sie sogar der Prototyp
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