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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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Schicksal überlassen? Mitten in der Tundra? Natürlich nicht! Du wirst sehen, wir kriegen eine Wohnung irgendwo im Süden, und diese Kleingläubigen, die jetzt weglaufen wie die Ratten, die werden sich in den Hintern beißen!«
    Die neunzehnjährige Antonina vertraute ihrem Mann und dem Staat. Und brachte nach Sewa auch noch Ljonja zur Welt.
    »So ein dummes Weib!« sagten ihre einstigen Nachbarn, als sie von der Geburtsklinik in Workuta wieder zurück nach Chalmer-Ju fuhr. Doch Tonja lächelte nur geheimnisvoll. Sie wußte ja, eine große Wohnung mit Blick auf ein südliches Meer wartete auf sie.
    Sie saß ganz allein im Zug. Der mürrische Lokführer, ein ehemaliger Lagerhäftling, zögerte aus unerklärlichen Gründen mit der Rückfahrt. Dann gab er zwei schrille Pfeifsignale. Tonja drehte sich um.
    »Hör zu, junge Frau. Ich sag dir was. Mach dich vom Acker. Worauf wartest du noch? Noch zwei Fahrten, dann ist hier Schluß. Die Strecke wird stillgelegt.«
    »Wie – stillgelegt?« fragte Tonja erstaunt. »Und wir? Und die Versorgung? Das kann nicht sein! Sie irren sich!«
    Auch der Lokführer nannte Tonja ein dummes Weib und fuhr zurück.
    Da kamen Antonina Kisseljowa die ersten Zweifel. Nach einer Woche schob sie, sie wußte selbst nicht warum, den Kinderwagen mit dem kleinen Ljonja zur Bahnstation. Und sah zu, wie die Familie Kapelkin lärmend ihre Habseligkeiten verlud. Der Lokführer, der beim Verladen der Kisten und Bündel half, warf ihr einen genervten Blick zu und spuckte herzhaft auf den Permafrostboden. Nach der Abreise der Kapelkins war Tonjas Familie allein in Chalmer-Ju.
    »Da hab ich vorsichtig zu meinem Mann gesagt, laß uns weggehen!« Es war so schrecklich in dem leeren Ort. Aber er hat nur wüst geflucht. Und sogar die Hand gegen mich erhoben. Das hat er früher nie getan, obwohl er Kraftfahrer ist. Ansonsten lag er tagelang mit dem Gesicht zur Wandauf dem Bett und sagte kein Wort. Und wenn er eingeschlafen war, knirschte er mit den Zähnen, ganz laut, in dieser Stille … Ich hatte solche Angst …
    Ernährt haben wir uns nur von Buchweizengrütze. Was anderes hatten wir nicht mehr. Ich hab auf dem Hof Feuer gemacht und dort gekocht. Der Strom war ja abgeschaltet, das Gas auch.
    ›Bald ist der Buchweizen alle, und was machen wir dann? Zu Fuß nach Workuta, einkaufen?‹ hab ich ihn gefragt. ›Und selbst wenn wir das schaffen würden – wovon sollen wir denn einkaufen?‹ Da springt er vom Bett auf, mit ganz irren Augen, und schüttelt mich wie wild. ›Auch du glaubst nicht! Auch du! Miststück!‹ Und legt sich wieder hin, und ich kriege kein Wort mehr aus ihm raus.
    Ich hab gekocht und ihm den Topf vors Bett gestellt, der war schon ganz schwarz vom Rauch. Den Tisch hab ich zerhackt, für Brennholz.
    Ich hab ihm also das Essen hingestellt, mir die Kinder geschnappt und bin gegangen.
    Bei uns im Ort gab es eine Baracke, früher war ein Kino drin, dort haben wir uns kennengelernt, mein Mann und ich. Ich hab Sewka an die Hand genommen, Ljonka im Wagen, und bin dort hin, mich ausheulen. Jeden Tag. Hab geheult wie ein Schloßhund. Sewka gleich mit. Und wenn Ljonja in seinem Wagen wach wurde, hat er auch geschrien. Ja, alle drei haben wir geheult. Ich hatte große Angst, daß die Milch wegbleibt, wegen der Nerven.
    Und dann kam der letzte Zug. Ich stand mit den Kindern auf dem Bahnhof. Ich war bloß gekommen, um mal wieder einen lebendigen Menschen zu sehen. Ohne irgendwelche Absichten. Ich steh also da, an den Kinderwagen geklammert, und gucke. Der Lokführer sieht mich und zucktrichtig zusammen, als hätte ihn jemand geschlagen. Und guckt, als wollte er mir das Herz aus dem Leib reißen. Guckt und guckt.
    Zu der Zeit gab’s in der Siedlung auf einmal eine Unmenge streunende Hunde. Rudelweise streiften die durch die Straßen. Die Besitzer hatten sie einfach dagelassen. Von diesen Hunden hab ich nachts geträumt: daß sie Ljonka aus dem Wagen zerren und mit ihren Zähnen zerreißen, daß sie Sewa eine Hand abbeißen. Die hatten ja nichts zu essen. Wenn ich die Straße langging, hatte ich immer das Gefühl, daß sie mich mit Bedacht ansehen, als ob sie warten, daß ich mich umdrehe, damit sie meine Kinder fressen können. Die liefen mir immer hinterher, ganz dicht. Als hätten sie’s auf den Kinderwagen abgesehen. Wenn ich irgendwas nach ihnen warf, knurrten sie und gaben Ruhe, aber nicht lange.
    Tja, ich steh also am Zug. Der Lokführer guckt mich an. Und plötzlich heulen diese Hunde los, und

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