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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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Überführung. Danach kotzte Alja fröhlich auf einen Zug, der unter ihnen hindurchfuhr, und sagte:
    »Das kommt vom Sauerstoff, ich hab ein Jahr lang das Haus nicht verlassen!«
    »Und auf des Thrones morschen Trümmern wird unsere Nummer leuchtend stehn!Die demokratische Partei der politischen Häftlinge Rußlands!« Es war tief in der Nacht, und Alja deklamierte Puschkin, mal an Nikita, mal an den vermoosten Lenin gewandt, der trübselig auf einem schrundigen Sockel mitten im Zentrum von Podolsk thronte. Vor dem Denkmal hielt ein Miliz-Jeep.
    »Ho-ho-ho!« lachte Alja unter ihrem grauen, zerzausten Hexenschopf hervor. »Auf den Schindanger bin ich lange nicht gebracht worden! Ho-ho-ho!«
    Nikita liefen bei diesem »Ho-ho-ho« Schauer über den Rücken. Selbst dem hartgesottenen Iljitsch schien mulmig zu werden. Aus dem Milizauto stieg Aljoscha, nahm Alja bei der Hand und sagte leise:
    »Fahren wir nach Hause …«
    »Ach, bist du’s, mein armer Ritter, bleich und schütter«, sagte Alja, glitt auf den Asphalt und schlief sofort ein.
    Die flüchtige Jelena wurde im Milizauto nach Hause gebracht. Aljoscha weinte die ganze Fahrt lang still und lächelte unter Tränen, den Blick auf die verschwommenen Lichtflecke der Straßenlampen gerichtet. Seine Brille hatte er irgendwo verloren, als er auf der Suche nach seinem eigensinnigen Schicksal durch Podolsk gelaufen war.

5
    »Ich kann nicht schlafen! Mein ganzer Kopf steht in Flammen! Sie wachsen darauf wie Haare! Und lodern nach allen Seiten! Sehr lustig!« plapperte Jasja atemlos ins Telefon. Es war vier Uhr morgens. Jasja rief aus der Nähe von Paris an.
    Kokain, Wein oder einfach bloß Frankreich? überlegte Nikita. Egal. Ihre Sätze endeten grundsätzlich mit einem Ausrufungszeichen. Unabhängig von den äußeren Umständen.
    Sie verließ jeden, der sie liebte. Und sie war von vielen geliebt worden. Doch Nikita konnte einfach nicht damit aufhören. Seit drei Jahren schon. Er war ihr bester Freund geworden. Und hörte sich, ohne zu murren, ihre Klagen über neue Liebhaber an, über die Willkür und Unverschämtheit der Produzenten und ihre Begeisterung für Chuck Palahniuks Invisible Monsters – »als hätte das nicht ein räudiger Yankee geschrieben, sondern ich selber!«
    Man könnte sagen, sie waren zusammen aufgewachsen. In den wichtigsten Lebensjahren – von siebzehn bis neunzehn – waren sie unzertrennlich gewesen. Darum kam es Nikita oft so vor, als wäre Jasja seine Schwester. Und seine Schwester konnte man nicht in sich auslöschen. Er versuchtees auch gar nicht. Sondern nahm alles hin, als müsse es so sein.
    Das erste Jahr nach Jasjas Weggang (sie selbst mit ihrem Hang zu großen Worten nannte es nicht anders als »Verrat«) war für Nikita eine Saison in der Hölle . Sie war in die Schweiz emigriert. Sein Leben lang würde er das neutrale kleine Land hassen, dem sämtliche Weltkriege und Nikitas persönliche Katastrophe gleichgültig waren. Jasja lief dort Ski und arbeitete in der Galerie ihres neuen Liebhabers, der ihr Vater hätte sein können. Nikita bekam regelmäßig verzweifelte E-Mails mit einer einzigen Zeile: »Wright me something!!!!!!!!!!!« Jajsa tat, als hätte sie die russische Sprache vergessen. Er antwortete nicht. Ihm fehlten die Worte.
    Dann kehrte Jasja nach Rußland zurück. In teuren Klamotten, mit einem Hochglanzlächeln und völlig irren Augen. Sie trafen sich bei einer Kommilitonin. Jasja redete wie aufgezogen, als hätte sie Angst zu schweigen. Das hübsche Dummchen Anetschka mit den abstehenden Ohren, das jedes Jahr einen erfolglosen Heiratsversuch unternahm, erging sich in begeisterter Zustimmung und freudigen Interjektionen.
    Nikita legte sich hinter den beiden aufs Sofa, preßte sein Gesicht gegen die fremde Jasja, die nach einem unbekannten Parfüm roch, und zum ersten Mal, seit die Saison in der Hölle angebrochen war, schlief er friedlich ein. Bis dahin hatte er nur stark betrunken einschlafen können. Oder mit Tranquilizern vollgestopft. Oder er schlief gar nicht, betrachtete ihrer beider »Kinderfotos«, bis ihm die Augen brannten, und suchte Jasjas glücklichen, vor zwei Jahren festgehaltenen Blick. Von ihrem Körper, der bereits anderen Händen gehorchte und in neuen Jeans steckte, durch all die Schichten fremder Gerüche und Bewegungen hindurch, gingdennoch eine Vertrautheit aus, eine »animalische Gemütlichkeit«, wie Limonowschrieb, nachdem seine Jelena ihn verlassen hatte, ein so süßes Gefühl der

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