Endstation Rußland
Nikita. »Mehr brauchst du nicht zum Glück?«
Der Junge überlegte, die halbe Faust im Mund.
»Na ja, ich hätte gern noch eine Eisenbahn. Ich würde fahren und fahren. Und dann«, erneut überzog ein Schleier des Behagens die Kinderaugen, »würde ich ins Gebüsch fallen! Und dort leben!«
»Und was hindert dich daran?« Nikita beugte sich hinunter, um die schwindende Aufmerksamkeit des Kindes zu fesseln.
»Die Socken!« brummte der Junge und lief trübsinnig weiter.
»Warme Socken, reine Schafwolle, bei mir nur 50 Rubel, auf dem Markt kosten sie das Doppelte!« rief eine Frau mit einer großen karierten Tasche, während sie sich durch die Waggonschlucht zwängte. »Reine Wolle, greift zu, Mädels, ihr werdet’s nicht bereuen!«
Am Ende des Wagens lieferte sich die stimmgewaltige Sockenverkäuferin ein ungleiches Wortgefecht mit der Zugbegleiterin, deren voller Baß alle Widerworte übertönte.
»Wie oft soll ich es noch sagen! Wir sind hier nicht beim Roten Kreuz! Wenn du mitfahren willst, dann zahl gefälligst! Das hier ist kein Wohltätigkeitsverein, das ist die Russische! Staatliche! Eisenbahn! Was kümmern mich deine Kinder! Du hast sie in die Welt gesetzt! Ich werfe euch jetzt raus! Das nächste Mal rufe ich die Miliz!«
Nikita griff nach seinem Rucksack und zwängte sich ebenfalls zum Ausgang durch.
Auf dem leeren Bahnsteig, unter der einzigen Laterne, schlief der Junge, der davon träumte, ins Gebüsch zu fallen, ungerührt auf der karierten Tasche mit den Socken. Von einem Gebüsch keine Spur. Nur ein paar blicklose Gebäudeund eine Dorfstraße, die sich in der Dunkelheit verlor. Ein zweiter, etwas älterer Junge, die Hände in den Hosentaschen, sah skeptisch zu der quietschenden Bahnsteiglaterne hinauf. Die Frau schaute dem abfahrenden Zug nach und lächelte. Das gefiel Nikita.
Das Bahnhofsgebäude der Station Kirshatsch war fest vernagelt. Nikita stellte seinen Rucksack auf eine nasse Bank.
»Was soll’s, übernachten wir eben hier. Sind wir gewöhnt. Wir kuscheln uns aneinander, dann frieren wir nicht«, sagte die Sockenverkäuferin Antonina Fjodorowna und bedeckte die Bank mit Plastiktüten. »Komm, zieh die Schuhe aus, ich geb dir auch ein Paar Socken, sonst holst du dir kalte Füße.«
»Mama, ich will Tee! Mama, ich bin ganz steifgefroren, und ich hab Bauchschmerzen!« jammerte der ältere Junge, Sewa.
»Hör auf zu maulen! Lächeln! Was hab ich dir beigebracht? Rücken gerade und lächeln! Morgen haben wir bestimmt Glück! Dann kriegst du Tee, und auch Brot und gezuckerte Kondensmilch.«
»Immer morgen, morgen! Gar nichts wird morgen!«
»Untersteh dich! Untersteh dich, so zu denken! Geschweige denn zu reden! Guck dir Ljonka an! Er ist viel kleiner als du, aber er benimmt sich wie ein richtiger Mann!«
Ljonka schlief friedlich, die Hand unter der Wange. Er bezweifelte offenkundig nicht, daß es morgen besser sein würde als gestern.
»Ich war früher genauso wie Sewka«, sagte Antonina Fjodorowna. »Hab immer gleich losgeheult. Und gedacht: Es wird nie besser, im ganzen Leben nicht … da kann man sich gleich den Strick nehmen! Aber dann hab ich in einemamerikanischen Buch gelesen, ein gerader Rücken und ein Lächeln, das ist der Weg zum Erfolg. Und jetzt, egal, was passiert, denke ich immer daran: Lächeln und den Rücken gerade! Dann wird alles besser!«
»Und?« erkundigte sich Nikita vorsichtig. »Funktioniert das?«
»Bislang nicht besonders«, gestand Antonina Fjodorowna unbekümmert. »Aber ich verzweifle nicht. Ich weiß, eines Tages wird sich alles ändern, ganz bestimmt!«
Antonina Kisseljowa, Tonja, war in der kleinen Bergarbeiterstadt Chalmer-Ju aufgewachsen. Das liegt hinter Workuta, noch weiter nördlich, Richtung Eismeer mit der Schmalspurbahn, die die Grube einmal pro Woche mit dem Rest der Welt verband.
Mit siebzehn hatte sie einen Kraftfahrer geheiratet. An freien Tagen machten sie Spritztouren durch die Tundra, in dem klapprigen Laster, mit dem er während der Woche Müll auf die Halde fuhr. Dann kam Sewa zur Welt. Und dann wurde die Grube geschlossen. Ohne jede Hoffnung, daß man sich um sie kümmern würde, verließen die Leute nach und nach den zum Tode verurteilten Ort.
Tonjas Mann aber hatte es mit dem Weggehen nicht eilig.
»Die Leute haben jeden Glauben verloren!« sagte er zu seiner Frau. »Wie kann man nur! Unser Staat ist ein Arbeiter-und-Bauern-Staat. Und was sind wir? Wir sind Arbeiter. Überleg doch mal: Kann unser Staat uns einfach dem
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