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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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forderte der OMON-Soldat Nikita auf.
    Nikita, obwohl vollkommen verwirrt, hob gehorsam das Megaphon und sprach die ersten Worte, die ihm in den Sinn kamen. Das Gedicht, das Alja vor dem Lenindenkmal rezitiert hatte, in der Nacht, als sie sich kennengelernt hatten.

    Freund, sei getrost: bald wirst du sehn
    Des Glückes Frühlingssonne schimmern!
    Das Volk erwacht beim Lenzeswehn,
    Und auf des Thrones morschen Trümmern
    Wird unser Name leuchtend stehn!

    »Hurra!« antwortete die vieltausendköpfige Menge freudig.
    Da wurde Nikita von Begeisterung erfaßt.
    »Vorwärts!« rief er und schwang den Arm. »Für Puschkin! Für Rußland! Für die Freiheit!«
    »Hurra!« dröhnte die Antwort so laut, daß es ihn fast betäubte.
    Unter anhaltenden Hurra-Rufen schaute das Volk sich um, auf der Suche nach einem Ort, wo es seine Begeisterung ausleben konnte.
    »Hurra!«
    Und entdeckte das vergessene Gebäude der Staatsduma.
    »Hurra!«
    Nikita wurde auf Schultern hineingetragen. Die Menge fegte die Metalldetektoren beiseite und strömte die Marmortreppen hinauf. Irgend jemand schleuderte Bilder des Staatsoberhaupts aus dem Souvenirladen für Abgeordnete ins Foyer. Der Präsident im grauen Jackett flog in hohem Bogen dem Präsidenten im Judokittel hinterher. Gefolgt vom Präsidenten, der seinen Hund Connie umarmte …
    Die Fernsehschirme im ersten Stock, vor denen die Pressevertreter, die seit der Eierattacke auf den Premierminister aus dem Sitzungssaal verbannt waren, sonst die einträchtige Abstimmung der Abgeordneten verfolgten, zeigten chaotische Volksmassen. Zwei kräftige Männer schleppten die Bände des Gesetzes Nummer 122an. Kurz darauf ertönten Schreie: »Triumph«, »Sieg«, »Autodafé«, und die Fotojournalisten stießen einander beiseite, um den Haufenbrennender Dokumente am besten ins Bild zu bekommen. Junge Leute faßten sich an den Händen und sprangen über das Feuer, in dem die Monetisierung verendete. Die Menschen umarmten sich, riefen »Hurra!« und warfen ihre Kopfbedeckungen in die Luft. Nikita wurde schwarz vor Augen.

32
    Auf einmal kamen aus allen Ritzen Gespenster gekrochen. Mamlejewsche Lemurenrissen mit lüsternem Grinsen Parkettsterne heraus und schleppten, sich auf behaarten Armen abstützend, ihre entseelten, toten Körper in den Sitzungssaal.
    Aus Abzügen und schwarzen Lüftungsschächten strömte das Heer unterirdischer Krüppel aus der Metro, beinlose Soldaten, Invaliden, die ihre fleischigen Stümpfe in die Menge tauchten.
    Ans Licht kamen, die leeren Ärmel schwenkend, menschenähnliche jenseitige oder auf der Schwelle zum Jenseits verharrende Stammgäste der Zwischenwelt, vereiste, mit der Kruste des Todes überzogene, den Kletten des Nichtseins überwucherte, dem Grind der Zersetzung bedeckte Wesen. Klägliche Überreste von Körpern und Krumen einer Seele, die eigentlich keine Seele mehr ist, bloß noch Wärme der Verwesung, ein stockender, ersterbender Puls, der den Fingern der Moiren jeden Augenblick zu entgleiten droht.
    Das dort waren auch schon keine Menschen mehr. Nicht-Menschen. Menschenscheue Bewohner verwilderter, mit Disteln und anderem Unrat der Natur überwucherterBahnsteige, zum Leben erweckt durch den zufälligen Blick eines Fernreisenden. Die Geister unbekannter Streckenabschnitte, zu Hause im trüben Licht der Lampe des Bahnwärters, mit der er, stets betrunken, stets tödlich beleidigt, herauskommt, um die Züge zu empfangen und ihnen einen Fluch nachzuschicken.
    Stumme, gottergeben jahraus, jahrein von Wagen zu Wagen irrende Austräger von Liebeshoroskopen, sprachlose Zeugen des russischen Raumes, Komplizen der Unendlichkeit, Vertraute solcher Entfernungen und Weiten, nach denen es keiner Worte mehr bedarf.
    Sie alle eilten, humpelnd und schleppend, kaum zu Materie verdichtet, die Kronleuchter leise zum Klirren bringend, sich wie ein plötzliches Gestöber über die Teppichläufer schlängelnd, an das Feuer der Revolution. Sie alle umringten Nikita, der vor dem Feuer aus volksfeindlichen Gesetzen stand, und lispelten speichelsprühend, mit der Stirn auf den Boden schlagend:

    »Laßt uns durch, laßt uns durch, laßt uns durch …
    zum Aufwärmen, zum Aufwärmen, zum Aufwärmen …«

    Nikita sprang über die Flammen und rannte los, die gierigen unreinen Hände, das Spinnennetz zahnlosen Flüsterns, die zähen trunkenen Träume Rußlands abwehrend. Im Laufen drehte er sich um und sah, wie ganze Regimenter zerlumpter Gestalten das Feuer stürmten, aufzischten, sich zur

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