Endstation Rußland
Ich will nach Hause! Ich mach keinen Aufstand! Ich hab hier bloß meinen Laden!«
Nikita glitt unter fremden Armen hindurch und betrat den von der dampfenden Menge eingekreisten winzigen Blumenpavillon.
»Wo willst du hin?« wandte er sich an das Mädchen. »Schließ dich ein und bleib hier sitzen, sonst trampeln sie dich nieder. Wenn sie schießen, leg dich auf den Boden. Alles wird gut.«
»Ich hab A-a-ngst«, wimmerte die Blumenhändlerin, den Tränen nahe, wobei sie das A rührend dehnte. »Ich hab A-angst!«
Nikita strich ihr übers Haar und legte seine Hand auf ihren warmen Nacken. Das Mädchen schlug die Hände vors Gesicht und verstummte. Nikita schaute durch ein Dickicht roter Rosen auf die Straße hinaus. Das Volk und die OMON-Leute standen sich reglos gegenüber. Es schien, als hielten Tausende von Menschen vor dem düsteren Duma-Gebäude gleichzeitig den Atem an. Zwischen der zusammengedrängten Menschenmenge und dem Staketenzaun aus Maschinenpistolen hatte sich ein freier Raum gebildet.
Nikita nahm einen Armvoll weißer Nelken aus einer bauchigen Vase, küßte das Mädchen auf das schwarze Haar, das nach allen Blumen der Erde duftete, ging hinaus und kämpfte sich in Richtung OMON-Truppen durch. Die Menschen wichen wortlos vor ihm auseinander und wuchsen hinter ihm erneut zusammen.
Rasch erreichte Nikita die Grenze der neutralen Zone und überschritt sie, wie ein Fallschirmspringer in die offene Luke eines Flugzeugs tritt.
Er bewegte sich langsam, wie im Traum, und senkte sein Gesicht ab und zu in die nassen weißen Blüten, um sichnicht so einsam zu fühlen. Das Schweigen um ihn herum war so tief wie der Marianen-Graben. Die Welt stand still, wie unter einem Bann.
Nach einer Ewigkeit und einem Tag erreichte Nikita die Sperrlinie, nahm eine Nelke aus dem Strauß und steckte sie in eine direkt auf ihn gerichtete MPi-Mündung. Die Mündung zuckte, blieb aber stumm. Nikita atmete aus. Und griff nach der nächsten Blume.
Während er die Reihe der OMON-Soldaten abschritt, sprach er leise vor sich hin, zusammenhanglos, fast ohne jeden Sinn – Worte, mit denen man ein kleines Kind beruhigt. Und versuchte, die Augen hinter den heruntergelassenen Visieren zu sehen.
»Nicht schießen, bitte. Das sind keine Feinde. Es sind genau solche Menschen wie ihr. Sie wollen nichts Schlechtes. Selbst wenn man es euch befohlen hat, ein Soldat hat das Recht, einen Befehl zu verweigern, wenn er eindeutig kriminell ist. Bitte nicht schießen. Dort sind alte Leute, dort sind Kinder. Sie sind unschuldig. Dort ist ein junges Mädchen, eine Blumenhändlerin, sie ist überhaupt nur zufällig hier und möchte gern nach Hause, bitte nicht schießen. Ihr würdet nicht nur Menschen töten, sondern auch eure eigene Seele, und das läßt sich nie wieder gutmachen, bitte nicht schießen.«
Bei jedem »nicht schießen« steckte Nikita eine Nelke in eine Mündung. Er spürte: Er durfte vor allem nicht verstummen. Also redete er und redete, wobei er kaum wußte, was er sagte, minutenlang die Verbindung zur Realität verlor und wieder die weiße, von Rissen durchzogene Krankenhausdecke vor sich sah. Und plötzlich waren die Blumen alle. Nikita blieb stehen.
»Nicht schießen! Bitte!« Nikita hob verwirrt die leerenHände, drehte sich um und ging langsam zurück. Es herrschte undurchdringliche Stille. Und auf einmal veränderte sich der Gesichtsausdruck der Menge, deren Augen auf Nikita gerichtet waren. Im selben Augenblick vernahm Nikita hinter sich das Trampeln schwerer Stiefel, und sein Rücken überzog sich mit Eis.
Nikita wandte den Kopf und erblickte einen OMON-Soldaten mit hochgeklapptem Visier. Der Soldat lächelte. Noch ehe Nikita begriff, was hier vorging, umfaßte ihn der breitschultrige Bursche mit Bärenarmen und riß ihn hoch. Nikita schwebte über der neutralen Zone und sah, daß die OMON-Reihen in Unordnung geraten waren. Hier und da brachen Schilde aus, die Männer warfen die nelkenbestückten Waffen fort und liefen in Richtung Duma.
»Die Miliz läuft zum Volk über!« riefen die Fernsehreporter, die mutig in den vordersten Reihen der revolutionären Massen standen. Ein OMON-Soldat nahm Nikita auf die Schultern und drang in die nun aufgetaute Menge vor, wo sich alle verbrüderten, umarmten und redeten wie aufgezogen.
Plötzlich hatte Nikita ein Megaphon in der Hand. Er begriff, daß all diese Menschen, die eben noch ganz mit ihrer Freude beschäftigt gewesen waren, nun ihn ansahen.
»Los, sag was, sie warten!«
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