Endstation Venedig
für einen Raubüberfall mit tödlichem Ausgang gehalten werden können, aber hier in Venedig passierte so etwas einfach nicht. Geschick oder Glück? Und wenn es Geschick war, wessen Geschicklichkeit war es dann, und warum war es nötig gewesen, Geschick einzusetzen?
Er rief unten im Hauptbüro an und fragte, ob es schon irgendeinen Erfolg bei den Hotels gäbe. Die Hotels erster und zweiter Klasse vermißten nur einen Gast, einen etwa Fünfzigjährigen, der vergangene Nacht nicht in sein Zimmer im Gabrielli Sandwirth zurückgekehrt war. Die Männer hatten begonnen, die kleineren Hotels zu überprüfen, von denen eines einen Amerikaner hatte, der vergangene Nacht abgereist war, dessen Beschreibung aber nicht paßte.
Brunetti war klar, daß er auch eine Wohnung in der Stadt ge-mietet haben konnte; in dem Fall mochten Tage vergehen, bevor er als vermißt gemeldet wurde; oder er wurde womöglich gar nicht vermißt.
Er rief im Labor an und verlangte Enzo Bocchese, den Leiter.
Als dieser an den Apparat kam, fragte Brunetti: Bocchese, haben Sie irgendwelche Erkenntnisse aus dem Tascheninhalt gewinnen können?
Er mußte nicht dazusagen, wessen Tascheninhalt.
Wir haben die Fahrkarte mit dem Infrarot geprüft. Sie war so durchweicht, daß ich nicht geglaubt habe, wir würden etwas erkennen. Haben wir aber.
Bocchese, der so schrecklich stolz war auf seine technischen Gerä-
te und was er alles damit machen konnte, wollte immer erst gebeten und dann gelobt werden.
Sehr gut. Ich weiß nicht, wie Sie das
machen, aber Sie finden ja immer etwas.
Wenn das nur annähernd
wahr wäre!
Woher stammte sie?
Aus Vicenza, Rückfahrkarte nach Venedig. Gestern gekauft und für die Hinfahrt entwertet. Ich habe einen Mann vom Bahnhof her-bestellt, um zu sehen, ob der an der Entwertung feststellen kann, welcher Zug es war, aber ich glaub’s nicht.
Für welche Klasse war sie? Erste oder zweite?
Zweite.
Noch etwas? Socken, Gürtel?
Hat Rizzardi Ihnen etwas über die Kleidung gesagt?
Ja. Daß die Unterwäsche amerikanisch ist.
Genau. Keine Frage. Der Gürtel – den hätte er überall kaufen können. Schwarzes Leder mit einer Messingschnalle. Die Socken sind Synthetik. Hergestellt in Taiwan oder Korea. Werden überall verkauft.
Noch was?
Nein, nichts.
Gute Arbeit, Bocchese, aber ich glaube nicht, daß wir mehr als die Fahrkarte brauchen, um Gewißheit zu haben.
Gewißheit, Commissario?
fragte Bocchese.
Daß er Amerikaner ist.
Warum?
fragte der Laborleiter, eindeutig verwirrt.
Weil dort die Amerikaner sind , erklärte Brunetti. Jeder Italiener in der Gegend wußte von dem Stützpunkt in Vicenza. Caser-ma irgendwas, der Stützpunkt, wo Tausende von Amerikanern mit ihren Familien wohnten, auch heute noch, fast fünfzig Jahre nach Kriegsende. Ja, das würde ganz bestimmt das Schreckgespenst Terrorismus heraufbeschwören, und es gab sicher Probleme wegen der Zuständigkeit. Die Amerikaner hatten ihre eigene Polizei da drau-
ßen, und sobald jemand das Wort Terrorismus auch nur flüsterte, konnte sehr wohl die NATO mit ins Spiel kommen, und möglicherweise Interpol.
Oder sogar die CIA, eine Vorstellung, bei der Brunetti das Gesicht verzog, wenn er nur daran dachte, wie Patta im Blitzlichtge-witter baden würde, in der Berühmtheit, die deren Ankunft mit sich brächte. Brunetti hatte keine Ahnung, wie Terrorakte sich anfühlten, aber für sein Gefühl war dies hier keiner. Ein Messer war eine allzu gewöhnliche Waffe; es sicherte dem Verbrechen keine Aufmerksamkeit. Und es hatte keinen Bekenneranruf gegeben. Der könnte vielleicht noch kommen, aber das wäre dann zu spät, zu passend.
Natürlich, natürlich , sagte Bocchese. Daran hätte ich denken sollen.
Er wartete, ob Brunetti noch etwas sagen wollte, und als nichts kam, fragte er:
Sonst noch etwas, Commissario?
Ja. Wenn Sie mit dem Mann von der Bahn gesprochen haben, lassen Sie mich bitte wissen, ob er Ihnen etwas über den Zug sagen konnte, den er genommen hat.
Ich bezweifle, daß er das kann, Commissario. Es ist nur eine Ausstanzung auf der Fahrkarte. Wir können daraus nichts entnehmen, was auf einen bestimmten Zug hindeutet. Aber ich rufe Sie an, wenn er es uns sagen kann. Noch etwas?
Nein, nichts weiter. Und vielen Dank, Bocchese.
Nachdem sie aufgelegt hatten, saß Brunetti an seinem Schreibtisch, starrte an die Wand und überdachte diese Information und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten. Ein junger Mann, körperlich fit, kommt nach Venedig mit einer
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