Endstation Venedig
den Stützpunkt gedacht und überlegt, ob er wohl von dort gekommen ist.
Ist er ertrunken?
Brunetti schwieg darauf so lange, daß der andere seine Frage wiederholte.
Ist er ertrunken?
Nein, Captain. Er ist nicht ertrunken. Es gibt Anzeichen für Gewaltanwendung.
Was heißt das?
Er wurde erstochen.
Ausgeraubt?
Es hat den Anschein, Captain.
Das klingt, als hätten Sie da Zweifel.
Es sieht aus wie ein Raubüberfall. Er hatte keine Brieftasche mehr, und alle seine Papiere fehlen.
Brunetti kam wieder auf seine
ursprüngliche Frage zurück:
Könnten Sie mir sagen, ob bei Ihnen
eine Vermißtenmeldung vorliegt oder ob jemand nicht bei seiner Arbeit erschienen ist?
Es folgte eine lange Pause, bevor der Captain antwortete: Kann ich Sie in einer Stunde wieder anrufen?
Gewiß.
Wir müssen die einzelnen Dienstposten anrufen und sehen, ob jemand an seinem Arbeitsplatz oder in seinem Quartier fehlt. Könnten Sie die Beschreibung bitte noch einmal wiederholen?
Der Mann, den wir gefunden haben, ist etwa Mitte Zwanzig, hat blaue Augen und blondes Haar und ist etwa fünf Fuß neun groß.
Danke, Commissario. Ich setze meine Leute sofort darauf an, und wir rufen zurück, sobald wir etwas erfahren haben.
Danke, Captain , sagte Brunetti und legte auf.
Wenn sich herausstellte, daß der junge Mann tatsächlich Amerikaner war, würde Patta sich überschlagen, damit der Mörder mög-lichst schnell gefunden wurde. Wie Brunetti wußte, war Patta un-fähig, hier die Vernichtung eines Menschenlebens zu sehen. Für ihn war das Ganze nicht mehr und nicht weniger als ein Schlag gegen den Tourismus, und um dieses öffentliche Gut zu schützen, würde Patta sicher verrückt spielen.
Er stand auf und ging die Treppe zu den größeren Büroräumen hinunter, in denen die uniformierten Polizisten arbeiteten. Beim Eintreten sah er Luciani, dem von seinem morgendlichen Bad im Kanal nichts mehr anzumerken war. Brunetti schauderte bei der Vorstellung, mit dem Wasser eines der Kanäle in Berührung zu kommen, nicht der Kälte wegen, sondern wegen der Verschmutzung. Er hatte oft gewitzelt, daß er es lieber nicht überleben wolle, sollte er einmal in einen Kanal fallen. Und doch war er als Junge im Canal Grande geschwommen, und ältere Leute, die er kannte, hatten ihm erzählt, daß sie früher das Salzwasser der Kanäle und der Lagune zum Kochen nehmen mußten, damals, als Salz zu den teuren und hochbesteuerten Gütern gehörte und die Venezianer arme Leute waren, weil es noch keine Tourismusindustrie gab.
Vianello war gerade am Telefon, als Brunetti hereinkam, und winkte ihn an seinen Schreibtisch.
Ja, Onkel, das weiß ich , sagte
er.
Aber was ist mit seinem Sohn? Nein, nicht der, der letztes Jahr den Ärger in Mestrino hatte.
Während er der Antwort seines Onkels lauschte, nickte er Brunetti zu und bedeutete ihm mit einer Handbewegung, zu warten, bis er sein Gespräch beendet hatte. Brunetti setzte sich und hörte den Rest des Telefonats mit an.
Wann hat er zuletzt gearbeitet?
In Breda? Komm schon, Onkel, du weißt, daß er nicht in der Lage ist, irgendeine Arbeit so lange zu behalten.
Vianello verstumm-
te und hörte lange zu, dann sagte er:
Nein, nein, wenn du etwas
von ihm hörst, vielleicht, daß er plötzlich viel Geld hat, dann laß es mich wissen. Ja, ja, Onkel, und gib Tante Luisa einen Kuß von mir.
Es folgte eine lange Reihe jener zweisilbigen ciaos , ohne
die ein Venezianer offenbar kein Gespräch beenden konnte.
Als er aufgelegt hatte, wandte Vianello sich an Brunetti und sagte:
Das war mein Onkel Carlo. Er wohnt in der Nähe von Fondamenta Nuove, bei Santi Giovanni e Paolo. Ich habe ihn über die Gegend befragt – wer dort Drogen verkauft, wer welche nimmt. Der einzige, den er kennt, ist dieser Vittorio Argenti.
Brunetti nickte
bei dem Namen. Wir hatten ihn schon x-mal hier. Aber mein Onkel sagt, vor einem halben Jahr hätte er eine Arbeit in Breda angenommen, und wenn ich es mir recht überlege, haben wir ihn genau so lange nicht mehr hier gehabt. Ich kann in den Unterlagen nachsehen, aber ich glaube, ich würde mich erinnern, wenn wir ihn aus irgendeinem Grund aufgegriffen hätten. Mein Onkel kennt die Familie und schwört, alle seien überzeugt, daß Vittorio sich verändert hat. Vianello zündete sich eine Zigarette an und blies das Streichholz aus.
So wie mein Onkel redet, klingt es, als sei er auch überzeugt.
Gibt es außer Argenti noch jemanden in der Gegend?
Offenbar war es vor allem er. Es hat
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