Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
kaum wahrnehmbare Bewegung, und doch war Blake sicher, dass er sie gespürt hatte. Das Buch lag so perfekt in seiner Hand, als gehöre es nirgendwo anders hin.
Sein Herz machte einen Hüpfer.
Bei genauerem Hinsehen entdeckte er zwei Lederstreifen mit kleinen Schließen daran, die das Buch früher einmal zusammengehalten hatten und die nun gebrochen waren. Die Lederstreifen baumelten herab wie offene Uhrbänder. An einem der Streifen hing eine silberne Zacke, die fast aussah wie ein Schlangenzahn. Anscheinend war es diese Metallspitze gewesen, die ihn in den Finger gepiekst hatte. Bei der Erinnerung spürte er das Klopfen in seinem Knöchel wieder, und er saugte an der Wunde, an der sich ein zweiter Blutstropfen gebildet hatte.
Auf dem Einband stand etwas, aber in so verblasster Schrift, dass es kaum zu erkennen war. Die Wörter waren fein wie Spinnfäden, behutsam blies er die dünne Staubschicht weg. Ein Name oder ein Titel wurde sichtbar, in ungewohnten runden Buchstaben ins Leder geprägt:
Er schlug das Buch auf. Seine Bewegungen waren fahrig, aber ohnehin blätterten sich die Seiten von selbst auseinander - es war, als sei eine unsichtbare Hand durch Zeit und Raum gekommen und wolle ihm zeigen, wo er am besten anfangen sollte.
Vor Verblüffung hielt Blake die Luft an.
Manche Seiten hafteten aneinander, hingen noch ungeöffnet an den Rändern zusammen, während andere sich entfalteten wie Landkarten ohne erkennbare Orte. Sie erinnerten ihn an die Origamivögel, die eine Japanerin einmal in einer Fernsehsendung gefaltet hatte. Das Buch hatte keine Zeilen wie ein Notizbuch und keine Spalten zum Hineinschreiben wie ein Taschenkalender; es gab überhaupt keine bedruckten Seiten, soweit er sah - ein gewöhnlicher Roman konnte es also auch nicht sein. Es schien, als habe er ein Buch mit lauter weißen Seiten entdeckt. Aber was hatte ein Buch ohne Wörter in einer Bibliothek zu suchen?
Eine leise Bewegung wie von einem Windhauch kribbelte an seinen Fingerspitzen, und er trat näher ans Fenster, um das Buch genauer anzuschauen. Im Papier glaubte er, feine Erhebungen zu erkennen, es war fast, als schimmere die Sonne darin und wolle ihm etwas mitteilen. Doch als er die Seiten einzeln ans Licht hielt, in der Hoffnung, eine verschlüsselte Geheimbotschaft darin zu finden, konnte er nichts dergleichen sehen.
Die Seiten waren wie dünne Milchglasscheiben. Da war nichts zu lesen.
Enttäuscht ging er zurück zum Regal und strich dabei gedankenverloren über das Papier. Es fühlte sich glatter an als alles, was er je in der Hand gehabt hatte. Wie Schneeflocken, kurz bevor sie schmelzen, dachte er ... oder, oder ... oder was genau? Es war eine flüchtige Wahrnehmung, die sich nur schwer mit Worten erklären ließ. Doch nachdem er das Buch einmal aufgeschlagen hatte, kam er nicht mehr davon los. Es hatte ihn in seinen Bann gezogen.
Auf keinen Fall war das ein normales Buch!
»Was hast du da?«
Duck hatte ihn aufgespürt. Sie war die Treppe heruntergeschlichen, klammerte sich wie ein Affe an die Ecke eines Bücherregals und sah ihn neugierig an.
»Nichts«, sagte er und drehte seiner Schwester den Rücken zu, damit sie nichts sehen konnte.
»Du lügst.«
»Ich sag dir, es ist nichts.«
»Seit wann liest du denn so gern?«
»Ich lese nicht, also verschwinde!«
Duck warf einen Blick auf die Bücher in dem Regal, vor dem er stand. Dann nahm sie ein paar dicke Bände heraus, legte sie auf einen Tisch und blätterte darin. »Typographie?«, sagte sie fragend und rümpfte die Nase. »Seit wann interessierst du dich für Typographie?«
Sie deutete auf das Titelblatt des ersten Buches, das sie wahllos aus dem Regal genommen hatte: De Ortu et Progressu Artis Typographicae. Die Illustration unter dem Titel zeigte eine Gruppe Männer in einem niedrigen Gewölbe, in dem schwere Geräte und Tische mit schrägen Platten standen. Sie druckten Bücher.
»Interessiert mich ja gar nicht«, sagte er. »Das Buch hier ist was anderes. Es stand im falschen Regal, das ist alles.«
»Wovon handelt es?«
Er ignorierte sie und blätterte weiter. Es ist, als wäre ich der Erste, der es entdeckt hat, dachte er. Oder noch anders: Es ist das erste Buch, das mich entdeckt hat.
Aber das war unmöglich! Mrs Richards musste es beim Katalogisieren durchgesehen haben. Blake suchte nach einer Karteikarte oder etwas Ähnlichem, das die Identität eines Buches festlegt, aber er fand nichts dergleichen. Auch war auf dem Rücken kein Etikett mit der
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