Endymion Spring - Die Macht des geheimen Buches
hatte seine Mutter fertig sein wollen. Er trommelte mit den Fingern gegen die Buchrücken in den Regalen der College-Bibliothek. Was sollte er so lange tun?Er war schon auf die Rollleitern geklettert und hatte sie an den metallenen Laufschienen die Regale entlangrollen lassen. Dann hatte er die größten und schwersten Bände, die er finden konnte, heruntergenommen und auf einen Tisch am Fenster gelegt, um sie besser betrachten zu können. Die Buchstaben auf dem steinfarbenen Papier hatten ihn an Fossilien erinnert, und eine Weile war er mit den Fingern über die Wörter gefahren. Schließlich hatte er die Bücher wieder zugeklappt. Die meisten waren in Sprachen geschrieben, die er nicht verstand.
Als Nächstes hatte er den Globus neben dem Eingang gedreht und seine Heimatstadt gesucht. Er konnte sie nirgends finden. Nordamerika war nur ein unbedeutender Fleck mit ein paar Flüssen, die die Ebenen durchquerten — sie sahen aus wie Sprünge im Lack. Wo die Großen Seen sein müssten, hatte der Kartograph einen Wald aus Tipis platziert, daneben einen einsamen Büffel. Näher werde ich in den nächsten Monaten nicht an meine Heimat herankommen, dachte Blake ...
Wieder seufzte er.
Er versuchte, die Zahl der Bücher in der Bibliothek zu überschlagen. Es mussten Zehntausende sein, schätzte er mit einem prüfenden Blick auf die Regale ringsum: Lesestoff für ein ganzes Leben, Bücherregale, die sich nach beiden Seiten hinzogen, jedes von der Decke bis zum Boden voller Bücher.
Beim Gehen fuhr er mit den Fingern über die Buchrücken und entlockte ihnen feine Staubwölkchen.
Bevor er an der weißen Bürotür vorbeiging, an der in großen Buchstaben PAULA RICHARDS, BIBLIOTHEKARIN stand, horchte er auf. Von der anderen Seite der Tür hörte er die abwechselnd lauter und leiser werdende Stimme seiner Mutter. Sie klang nicht ärgerlich, nur energisch - gewöhnt, ihre Vorstellungen durchzusetzen.
Da sie als Gastdozentin ein Semester in Oxford lehrte, verbrachte sie die meiste Zeit in der Bodleian Library, einer der größten Büchersammlungen der Welt, und brauchte jemanden, der auf ihre beiden Kinder aufpasste. Gerade war sie dabei, eine neue Vereinbarung mit der Bibliothekarin auszuhandeln, die inzwischen so etwas wie ihre Babysitterin geworden war.
Blake sah wieder auf die Uhr - 36 Minuten über der Zeit - und seufzte zum dritten Mal.
Als Nächstes versuchte er, rückwärts zu gehen und dabei in umgekehrter Reihenfolge gegen die Buchrücken zu klopfen. Vielleicht würde dann die Zeit schneller vergehen.
Von den Wänden starrten Porträts von Leuten mit strengen Gesichtern auf ihn herunter. Sie trugen dunkle Umhänge und hatten spitze Bärte wie Zauberer. Kunstvolle Halskrausen quollen aus ihren Ausschnitten wie zerdrückte Chrysanthemen. Die älteren Männer hatten müde Augen und runzlige Haut wie Schildkröten, aber es gab auch ein paar Jungen mit blassen Gesichtern. Blake las die Namensschilder: Thomas Sternhold (1587-1608). Jeremiah Wood (1564-1629). Isaac Wilkes (1616-1637). Lucius St.Boniface de la Croix (1599-1666). Jeder der Männer hatte ein kleines Buch in der Hand und tippte mit dem Zeigefinger auf eine scheinbar wichtige Stelle, als wollten sie künftige Generationen daran erinnern, fleißig zu lernen und sich gut zu benehmen. Blake ignorierte ihre missbilligenden Blicke, ließ weiter die Finger über die Bücher gleiten und klopfte mit den Knöcheln gegen ihre Rücken.
Auf einmal blieb er wie angewurzelt stehen.
Eines der Bücher hatte zurückgeschlagen! Es hatte ihm einen spielerischen Hieb auf die Finger verpasst wie eine Katze und war wieder in Deckung gegangen. Er zog die Hand zurück, als hätte ihn etwas gestochen.
Er besah seine Finger, konnte aber nichts Ungewöhnliches feststellen. Sie waren staubig, aber ohne einen sichtbaren Kratzer oder eine Verletzung. Dann betrachtete er die Bücher genauer, um herauszufinden, welches sich bewegt hatte, aber auch sie kamen ihm ganz gewöhnlich vor. Reihenweise Bücher aus altem, sprödem Papier, in Habachtstellung wie Spielzeugsoldaten in Lederuniformen -nur, dass eines von ihnen gerade versucht hatte, sich gewaltsam in seine Hand zu drängen.
Nachdenklich lutschte er an seinem Finger. An der Stelle, wo ihn das Buch am Knöchel getroffen hatte, bildete sich eine feine Blutspur wie von einem Papierschnitt.
Die Bibliotheksräume wirkten schläfrig an diesem warmen, stillen Nachmittag. Sonnenstrahlen hingen wie staubige Vorhänge in der Luft, und
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